Gedanken zu Aktualität und Verfaßtheit der Anthroposophischen Gesellschaft / Weihnachtstagung

Peter Nantke, 2003, überarbeitet 2010.

Zurück zum  home

Zurück zum Verzeichnis

Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind Gedanken, die Albert Reps 1956 für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft veröffentlicht hat1. In dem hier vorliegenden Aufsatz ist immer die auf der Weihnachtstagung 1923 gegründete Gesellschaft, also nicht der Verein <Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft> mit Sitz in Dornach gemeint. Albert Reps hat seine Arbeit damals vor allem mit Blick auf den Nachlaßstreit verfaßt. Obwohl das alles längst Geschichte geworden ist, sind die Gedanken von Albert Reps angesichts der heutigen Lage in der Anthroposophischen Gesellschaft hochaktuell. Allerdings muß man seine Gedanken weiterdenken, wenn man verstehen will, wie die Anthroposophische Gesellschaft und damit auch die Anthroposophie selber in die heutige Zeit eingebettet sind.

Albert Reps klärt zunächst den Begriff der Esoterik. Esoterik ist das nach innen, in das Allerinnerste gewendete ernste Streben. Esoterische Qualität liegt schon ganz im Anfang dieses Strebens vor, ohne Blick auf irgendwelche Ergebnisse, wenn es nur wirklich ernst ist. Dieses Streben richtet sich auf die Pflege des seelischen Lebens im Einzelnen und in der Gesellschaft. Insofern ein solches Streben wirklich vorliegt, handelt es sich um Esoterik. Deshalb ist sowohl die Anthroposophische Gesellschaft, als auch ihr Vorstand als esoterisch zu betrachten. Auch hat niemand das Recht, jemand anderem die Qualität des Esoterischen abzusprechen. Die Eigenschaft <esoterisch> hängt also nicht davon ab, ob sich innerhalb einer Gemeinschaft, wie z.B. dem Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft ein Eingeweihter befindet, der das Leben und die Arbeit eines solchen Gremiums regelt und leitet.

Dann schildert Albert Reps drei verschiedene Stufen in der Verfaßtheit der menschlichen Gesellschaft. Die erste hatte ihre Berechtigung in lang vergangenen Zeiten. Er nennt diese Verfaßtheit der Menschheit Fas, von lat. fas, die göttliche Satzung, das Gebot. Es handelt sich bei Fas um die Verfaßtheit der dritten Kulturperiode, die man auch als Hausrecht kennt und von dem noch heute Überreste im Mittelmeerraum zu finden sind.

Die zweite Stufe in der Verfaßtheit der Gesellschaft ist Jus, das römische Recht, das auch in der Gegenwart noch gilt. Jus beruht darauf, daß die Rechtsprechung unabhängig von Staat und Gesellschaft durch unabhängige Richter aufgrund geschriebener und von der Gesellschaft vereinbarter Gesetze gesprochen wird. Das Jus ist für alle Mitglieder der Gesellschaft bindend. Nichtbeachtung des Jus durch ein Mitglied der Gesellschaft fordert im Zivilrecht die Klage eines anderen heraus und im Strafrecht die Klage der Gemeinschaft, d.h. des Staates. Insofern unterliegen wir alle innerhalb der Rechtssphäre sozusagen unentrinnbar dem Jus; wir sind in dieser Hinsicht nicht frei. Wir sind aber auch alle auf das Jus angewiesen, nämlich insofern es unsere Rechte gegenüber der Gemeinschaft und dem Einzelnen schützt. Dabei ist es im Gegensatz zum alten Hausrecht nicht von Belang, ob ich Mitglied einer Familie, einer Sippe oder einer anderen Gemeinschaft bin, das Jus schützt mich auch vor der eigenen Familie oder anderen Gemeinschaften, mit denen ich verbunden bin. Auch Eigenjustiz, die selbstverständlich zum Wesen des Fas gehört (z.B. Blutrache) ist unter dem Jus verboten. Hierdurch schafft das Jus einen Freiraum für die beiden anderen gesellschaftlichen Sphären, das Wirtschaftsleben und das Geistesleben. Es schafft Ordnung und Rechtssicherheit. Dadurch können sich die beiden anderen gesellschaftlichen Bereiche frei entfalten.

Die dritte Stufe gesellschaftlicher Verfaßtheit nennt Albert Reps Ordo. Auf dieser Stufe der Entwicklung gibt es keinen Schutz der Gemeinschaft vor dem einzelnen Mitglied mehr. Eine solche Gemeinschaft bildet sich durch freien Entschluß der Einzelnen, die ihre Entfremdung überwinden wollen. Rudolf Steiner hat solche Menschen heimatlose Seelen genannt und damit auf einen wichtigen Aspekt bei der Bildung spiritueller Gemeinschaften hingewiesen. Das Gemeinschaftsbildende liegt bei solchen Gemeinschaften nicht mehr im Blutszusammenhang oder im gemeinsamen Konsenz über die Regeln des Zusammenlebens, oder auch im Konsenz über ethische Prinzipien, Menschenrechte u.s.w., sondern es liegt im gemeinsamen Streben nach Idealen, die in der Zukunft liegen. Dazu bedarf es gemeinsamer Tätigkeit, z.B. der Pflege des seelischen Lebens im Einzelnen und in der Gesellschaft. Ein solches Streben kann nur ein im obigen Sinne esoterisches Streben sein. Die Ziele, auf die es sich richtet, liegen also immer in der Zukunft; insofern, aber auch nur insofern hat ein solches Streben utopischen Charakter.

Vereinigungen, die utopische Ziele verfolgen hat es schon immer gegeben. Aus der neueren Zeit ist wohl die kommunistische Partei das bekannteste Beispiel. Solche Gruppen waren immer der Meinung, daß der gesellschaftliche Fortschritt nur durch Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen sei. Man habe also seine Tätigkeit auf das Umfeld des Individuums, also den Staat zu richten. Eine Veränderung der Moral des Einzelnen würde sich dann von selber als Folge der neuen Verhältnisse einstellen. Dieses Streben ist deswegen exoterisch zu nennen. Es richtet sich zwar auf etwas Zukünftiges, sieht aber den Menschen nur als Produkt der äußeren Verhältnisse an und versperrt sich dadurch grundsätzlich den Blick auf die Möglichkeit esoterischen Wirkens. Diese Sichtweise hat schließlich eine Mißachtung des Menschen zur Folge, weshalb solche Bewegungen bereit sind, die Gegenwart für eine bessere Zukunft zu opfern (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, suhrkamp taschenbuch).

Im Gegensatz hierzu sehen esoterische Vereinigungen den Wirkungszusammenhang genau umgekehrt. Esoterisches Streben führt allmählich zu einer Veränderung des moralischen Wertes des Individuums und erst als Folge davon ergibt sich eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Besseren. Ja, der esoterisch Strebende wird sogar jede organisatorische Veränderung als wirkungslos ansehen, wenn sie nicht zugleich mit einer Erhöhung der moralischen Fähigkeiten, also der moralischen Phantasie und der moralischen Technik einhergeht, die ja selbstverständlich nur durch esoterisches Streben erreicht werden können. Hier liegt noch ein weiteres Grundproblem der Menschheit verborgen. Während nämlich die Kommunisten bereit waren, die Gegenwart für die Zukunft zu opfern, sind die kapitalistisch orientierten Gesellschaften heutzutage eher bereit, die Zukunft für die Gegenwart zu opfern. Hans Jonas drückt dies in <Das Prinzip Verantwortung> so aus: <Die Zukunft aber ist in keinem Gremium vertreten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine Lobby und die Ungeborenen sind machtlos.> (suhrkamp taschenbuch, S. 15)

Man kann dies alles noch etwas anders wenden und es dadurch zugleich deutlicher machen. Der exoterisch Strebende kann den Blick auf die gewordene Welt richten. Er ist dann ein Epimetheus. über diese denkt er nach und kommt dabei zu dem Schluß, daß die Entstehungsursachen in der Vergangenheit liegen. Dabei nimmt er an, daß er mit seinem auf die Vergangenheit gerichteten Denken bis zu diesen Entstehungsursachen vordringen könne. Dies erweist sich aber als Irrtum, denn er kommt auf diesem Wege an eine unübersteigbare Grenze, hinter der nichts mehr liegt. In der Kosmologie ist dies der Augenblick des Urknalls. Die Frage: Was ist davor? kann nicht beantwortet werden. Damit hat sich diese Denkweise ad absurdum geführt. Die Zukunft ist für diesen Exoteriker Zufallsprodukt der Wirkung des Gegenwärtigen.

Diejenige Denkweise, die die Aufmerksamkeit auf die Zukunft richtet und mittels ihrer Gedankenbilder die Zukunft der menschlichen Gesellschaft beeinflussen will, kann man prometheisch nennen. Der Erfinder, der ein Gerät, eine Maschine, ein neues Verkehrsmittel erfindet oder der Politiker, der seine Ideale in neue Gesetze einfließen läßt, ein berühmtes Beispiel ist William Wilberforce, der Kämpfer gegen die Sklaverei, oder der Begründer einer Religion, oder ein Philosoph; sie alle wirken mit ihrem Denken zukunftgestaltend. Hier kann man nicht von Kausalität reden, vielmehr ist für den gedanklichen Griff in die Zukunft der Begriff Finalität richtiger. Auch das Schaffen des Künstlers besitzt immer diesen Charakter. Es ist zwar deutlich, daß aus dem Seeleninneren des prometheischen Künstlers herausfließt, was die Außenwelt umgestaltet, er aber träumt darüber meistens hinweg. So ist auch der prometheische Charakter in der Regel ein Exoteriker.

Der Exoteriker richtet eine Wand zwischen sich und der Außenwelt auf; diese ist ihm gegenständlich. Er gewinnt sein Ichbewußtsein aus dieser Gegenständlichkeit der Außenwelt, die ihm das Gefühl einer Objektivität seines Denkens vermittelt.

<Das Bild, das der Denker von den Erscheinungen der Welt entwirft, gilt nicht als etwas, was zu den Dingen gehört, sondern als ein nur im Kopfe des Menschen existierendes; die Welt ist auch fertig ohne dieses Bild. Die Welt ist fix und fertig in allen ihren Substanzen und Kräften; und von dieser fertigen Welt entwirft der Mensch ein Bild.(R. Steiner, Philosophie der Freiheit, Das Erkennen der Welt).>

Mit diesen Sätzen charakterisiert Rudolf Steiner genau die Denkweise des Exoterikers. Erst wenn der Denker darauf aufmerksam wird, daß er ja selber mit seinem ganzen Sein, nicht nur in leiblicher Hinsicht, sondern auch mit seinem Denken, Fühlen und Wollen Teil der Welt ist, kann er seine Haltung ändern und kann denken:

<mit welchem Recht erklärt ihr die Welt für fertig ohne das Denken? Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Kopfe des Menschen hervor, wie die Blüte an der Pflanze? Pflanzet ein Samenkorn in den Boden. Es treibt Wurzel und Stengel. Es entfaltet sich zu Blättern und Blüten. Stellet die Pflanze euch selbst gegenüber. Sie verbindet sich in eurer Seele mit einem bestimmten Begriffe. Warum gehört dieser Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Blüte? Ihr saget: die Blätter und Blüten sind ohne ein wahrnehmendes Subjekt da; der Begriff erscheint erst, wenn sich der Mensch der Pflanze gegenüberstellt. Ganz wohl, aber auch Blätter und Blüten entstehen an der Pflanze nur, wenn Erde da ist, in die der Keim gelegt werden kann, wenn Licht und Luft da sind, in denen sich Blätter und Blüten entfalten können. Gerade so entsteht der Begriff der Pflanze, wenn ein denkendes Bewußtsein an die Pflanze herantritt.> (Die Philosophie der Freiheit, Das Erkennen der Welt)

Dem Esoteriker, der diesen in der Philosophie der Freiheit ausgesprochenen Gedanken ganz ernst nimmt, drängt sich nun auch folgender Gedanke auf:

<Wenn die Pflanze ohne den im Bewußtsein des Menschen gebildeten Begriff nicht vollständig sei, dann sei es für das Sein der Pflanze nicht gleichgültig, ob für sie die Gelegenheit entstehe, daß sich ein Begriff von ihr in einem Menschenbewußtsein bilde oder nicht. Dann könne es auch kaum gleichgültig sein, ob ich etwas falsches oder richtiges, wahres oder unwahres über Welt und Mensch denke.>

Dies wird wohl dem modernen Bewußtsein, vor allem des Naturwissenschaftlers hart ankommen. Aber wenn man den von Rudolf Steiner formulierten Vordersatz anerkennt, wird man wohl nicht umhin können auch die Konsequenz zu ziehen.

Was hat dies alles mit der Aktualität und Verfaßtheit der Anthroposophischen Gesellschaft zu tun? So wird sich an dieser Stelle vielleicht mancher fragen. Aber das ist nun keine große Schwierigkeit mehr. Im Gegenteil scheint es sehr viel leichter zu sein, den obigen Gedanken bezüglich der Pflanze zu verstehen und anzuerkennen, wenn man ihn auf ein soziales Gebilde, wie die Anthroposophische Gesellschaft bezieht. Für ein soziales Gebilde ist es keineswegs gleichgültig, welcher Begriff von ihm in den Menschen lebt, und zwar sowohl in denen, die ihm angehören, wie in denen, die es von außen betrachten. Lebt in der Seele eines Mitgliedes ein falscher Begriff, dann wird das soziale Wesen geschädigt sein. Hypothetisch angenommen, es gäbe überhaupt keine Menschen mehr, die Anthroposophische Gesellschaft im Sinne ihrer Gründer, d.h. der Teilnehmer der Weihnachtstagung denken würden, dann müßte man sagen, das sie nicht mehr im Sinne ihrer Gründer existiert. Andererseits, - wenn es genügend Mitglieder gibt, die die Anthroposophische Gesellschaft im Sinne ihrer Gründer, vor allem aber Rudolf Steiners denken, dann existiert und lebt sie. Meine persönliche Überzeugung ist, daß dies Letztere der Fall ist.

Nun ist ganz deutlich, was Albert Reps seinerzeit gemeint hat, als er aussprach, daß eine unter Ordo verfaßte Gemeinschaft ihren Mitgliedern schutzlos ausgeliefert sei. Wenn diese nämlich den esoterischen Charakter ihrer Gemeinschaft nicht mehr verstehen oder nicht mehr wollen können, dann wird die Gemeinschaft notwendigerweise erkranken. Für die Anthroposophische Gesellschaft ist ihr esoterischer Charakter in den Statuten und im Grundstein beschrieben. Eine meditative Beschäftigung mit dem Grundstein und den Statuten ist deswegen für die Gesunderhaltung der Gesellschaft nötig. Dies schließt natürlich ein Zerreden in Debattierklubs aus. Weiterhin ist für die Gesunderhaltung der Anthroposophischen Gesellschaft eine lebendige Beschäftigung des Einzelnen und der Gruppen mit der Anthroposophie selber nötig. Dies sind Selbstverständlichkeiten, die man sofort einsehen kann. Wie verhält es sich aber mit der Gestaltung der Institutionen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, vor allem des Vorstandes?

Die Ziele und Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft liegen im Geistesleben. Die Pflege des seelischen Lebens im Einzelnen und in der Gesellschaft hat eine geistig-seelische und eine geistig-soziale Seite. Vom Vorstand dieser Gesellschaft wird erwartet, daß er diesen Zielen initiativ dient. Er kümmere sich um Geistesforschung, d.h. er leite die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, er kümmere sich um das Leben der Anthroposophie in den Gruppen, er ermutige und rege an, wo sich Gelegenheit dazu bietet. Er versuche, die geistigen Strömungen, die in der Anthroposophischen Gesellschaft zusammenleben, in sich, in sein Bewußtsein aufzunehmen und dadurch ein fruchtbares Zusammenwirken solcher Strömungen zu fördern und zu ermöglichen. Dies alles ist nur langfristig möglich; es erfordert Unabhängigkeit und Harmonie im Zusammenwirken der Glieder dieses Vorstandes. Deshalb scheint es mir richtig zu sein, daß er sich durch Kooptation ergänzt und erneuert und daß ein ergänzter oder erneuerter Vorstand von einer Mitgliederversammlung bestätigt wird. Auch ist es nicht tunlich, die Amtszeit dieses Vorstandes zu begrenzen, denn er kann nur langfristig fruchtbar wirken. Möge also die Amtszeit eines Vorstandsmitglieds wie bisher nur durch Krankheit, Alter und Tod oder eigenen Entschluß begrenzt werden, dies hat sich ja auch in der Vergangenheit bewährt.

Alle Organisationsformen oder institutionellen Einrichtungen, die dem Wirtschaftleben oder dem Rechtsleben entlehnt sind, schaden der Anthroposophischen Gesellschaft, wenn sie auf diese übertragen werden. Ein Aufsichtsrat ist also ebenso fehl am Platze, wie eine Findungskommission für neue Vorstandsmitglieder. So, wie die Dinge zur Zeit geordnet sind, ist der Vorstand eine Arbeitsgruppe, genau wie alle anderen Arbeitsgruppen innerhalb der Gesellschaft, er bildet und erneuert sich, wie das die anderen Arbeitsgruppen auch tun, durch freies initiatives Wirken. Macht besitzt er nicht, seine geistige Autorität entsteht oder verschwindet durch sein Wirken. Insbesondere kann er weder den Mitgliedern, noch den Zweigen oder anderen Arbeitszusammenhängen irgendwelche Vorschriften bezüglich ihrer Arbeit machen, er kann sie nur anregen. Diese sind also in derselben Weise frei wie der Vorstand; sie leben von der sich in ihnen entfaltenden Initiative. Dadurch kann auch jede Arbeitsgruppe dem Vorstand in geistigen Belangen als freier Gesprächspartner gegenübertreten, ja, auch das einzelne Mitglied kann dies. Ob man als Geprächspartner von einem anderen akzeptiert wird, hängt natürlich davon ab, ob und wie man den Anderen schätzt, würdigt, vertraut und achtet. Ich habe die Meinung äußern hören, Kooptation wäre deshalb schädlich, weil ein kooptierendes Gremium immer darauf achten würde, <bequeme> d.h. im Grunde genommen unfähige Leute zu kooptieren. Daß dies nicht im eigentlichen (das meint <nicht erkannten>) Interesse eines Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft liegen könne, sei doch klar. Ein unbefangener Blick in die Geschichte unserer Gesellschaft zeigt aber gerade, daß es genau umgekehrt ist. Der Vorstand hat bisher nie in diesem Sinne <bequeme> Leute kooptiert.

Ein Aufsichtsrat ist deswegen fehl am Platze, weil er ja nur die Aufgabe haben könnte, den Vorstand der Gesellschaft bezüglich seiner Befähigung zu beurteilen, d.h. aber, ihm Zensuren zu erteilen und dann gegebenenfalls Personalentscheidungen zu treffen. Er würde also von außen in die Tätigkeit des Vorstandes einzugreifen haben und zwar mit dem Anspruch, in den geistigen Angelegenheiten des Vorstandes urteilsfähig zu sein. Daß dies die Tätigkeit des Vorstandes sofort paralysieren würde und deswegen eine Unmöglichkeit ist, scheint mir klar zu sein.

Alles bisher Vorgebrachte bezieht sich auf den eigentlichen Sinn und Zweck der Anthroposophischen Gesellschaft. Insofern das Goetheanum ein Wirtschaftsbetrieb ist, bedarf es durchaus der Formen des heutigen Rechts. Ergebnisrechnung und Bilanz müssen streng nach den heutzutage üblichen Usancen geprüft werden. In dieser Hinsicht müssen Vorstand und Schatzmeister von der Mitgliederversammlung entlastet oder nicht entlastet werden. Nur dies begründet das Vertrauen, auf Grund dessen die Spenden für die Aufgaben des Goetheanums fließen können. Sollten Unregelmäßigkeiten vorgekommen sein, muß es Konsequenzen geben. Dort, wo das Goetheanum als Arbeitgeber auftritt, hat es sich selbstverständlich in den Rechtsformen der Gegenwart zu bewegen. Da heißt es: <Pacta sunt servanda.> Der Arbeitgeber hat eine Fürsorgepflicht für seine Angestellten und Mitarbeiter. Diese ist zu erfüllen. Die Mitglieder tragen auch in diesen Bereichen eine Mitverantwortung, der sie dadurch gerecht werden können, daß sie sich Bewußtsein von den Notwendigkeiten verschaffen und durch ihre Mitgliedsbeiträge und Spenden die Existenz des Goetheanums sichern.

Aber dies darf nicht den Blick dafür verdunkeln, warum man dies tut. Eigentlich ist es ja klar, daß die wirtschaftliche und rechtliche Existenz der Anthroposophischen Gesellschaft nur ein Hilfsmittel ist, um den in den Statuten niedergelegten Zweck des Zusammenlebens in dieser Gesellschaft zu ermöglichen.

<Die Anthroposophische Gesellschaft soll eine Vereinigung von Menschen sein, die das seelische Leben im einzelnen Menschen und in der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage einer wahren Erkenntnis der geistigen Welt pflegen wollen.> (Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft, Paragraph 1)

In der heutigen Zeit ist dies mehr als jemals zuvor nötig! Es würde unserer Zivilisation etwas Wesentliches fehlen, wenn es eine solche Gesellschaft nicht gäbe. Es ist eben etwas qualitativ ganz anderes, ob geistiges Streben in brüderlichem Zusammenwirken in einer Gesellschaft gepflegt wird, die vollgültig im öffentlichen Leben steht, oder ob es in privaten Zirkeln gepflegt wird. Letzteres ist sicher nicht immer schädlich, aber ersteres ist in gegenwärtiger Zeit Zivilisationsaufgabe.

Dabei kommt es gewiß nicht darauf an, wieviel Mitglieder die Anthroposophische Gesellschaft hat. Es ist schön, wenn es viele sind, aber wenn dies durch Verwässerung erkauft würde, wäre es nicht gut. Eine Gesellschaft, die im öffentlichen Leben steht und zugleich im oben gemeinten Sinne esoterischen Charakter hat, ist in der Gegenwart etwas einmaliges. Mögen wir uns deshalb nicht von diesem oder jenem beirren lassen, - möge die Substanz unserer Anthroposophischen Gesellschaft von uns allen gehütet und gepflegt werden! Damit dienen wir der Zukunft.

__________________


1) Albert Reps, Soziosophie, Grundgedanken zur Weihnachtstagung, Privatdruck für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, Freiburg 1956.