Begonnen etwa 1993 und überarbeitet 2010.

Die politische Gesinnung Rudolf Steiners und der Rassismusvorwurf

Peter Nantke

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Vorbemerkung

Die vorliegende kleine Arbeit entstand aus folgendem Anlaß. Ein mir verbundener anthroposophischer Freund, wurde von weitläufigen Verwandten bedrängt, indem sie ihn zu ihren Gesinnungen zu bekehren versuchten. Sie konfrontierten ihn mit dem Buch von Georg Werner Haverbeck und einem Aufsatz von Ernst-Otto Cohrs. "Du siehst doch, Rudolf Steiner ist derselben Meinung wie wir." Mein Freund wußte zwar genau, daß dies nicht so sein kann, aber er war zunächst wehrlos, weil er sich im Vortragswerk Rudolf Steiners nicht genau genug auskannte. In dieser Situation fragte er mich, ob ich ihm helfen könne. Die Antwort auf diese Frage war dann dieser Aufsatz.

Im Nachhinein bemerkte ich, daß eine Anzahl von Menschen in meinem Bekanntenkreis dieselben Ansichten und Gesinnungen wie Haverbeck vertreten. Von einer dieser Persönlichkeiten bekam ich die sogenannten "Protokolle der Weisen von Zion". Diese Persönlichkeiten sind etwas älter als ich, gehören also zu einer Generation, zu der ich selber gerade eben noch oder vielleicht auch gerade eben nicht mehr gehöre. Ich fand solche Persönlichkeiten sowohl im anthroposophischen Umfeld, als auch außerhalb der anthroposophischen Bewegung. Die Altersgruppe, von der hier die Rede ist, verlebte ihre Kindheit und Jugend in der Zeit des dritten Reiches. Die etwas älteren gingen mit ihrem Jugendidealismus ganz herein in die nationalsozialistische Bewegung. Sie erlebten dann den Zusammenbruch des dritten Reiches und wurden durch alles, was dabei erlebt wurde im tiefsten Inneren verwundet. Solche Erlebnisse waren schicksalsmäßig bedingt ganz verschieden. Manch einer wurde durch Kriegserlebnisse oder durch einsichtige Lehrer und Eltern belehrt. Wer dieses Glück nicht hatte, mußte vielleicht mit unbewältigten Erlebnissen und Enttäuschungen fertig werden. Ich verstehe den Begriff der Enttäuschung so, daß er etwa dasselbe meint, wie überwindung der Täuschung, daß er also auch Einsicht bedeutet. Wer nicht in diesem Sinne "enttäuscht" wurde, der verdrängte vielleicht zunächst, was er an unverstandenen Erfahrungen und unverarbeiteten Jugendidealen mit sich herumtrug. So mag es geschehen sein, daß in den verborgenen Tiefen mancher Seelen alte Reste zurückblieben, die bei gegebenem Anlaß als falsche, unzeitgemäße, ja eigentlich in tieferem Verständnis unmoralische Gesinnung in die Erscheinung treten. Die aktuelle Lage, der verstärkt in Erscheinung tretende Fremdenhaß, die immer noch andauernden Rassismusvorwürfe gegen Rudolf Steiner und das merkwürdige Phänomen, daß gebildete Persönlichkeiten im Umfeld der anthroposophischen Bewegung Rudolf Steiner immer noch für ihre irrtümlichen Ansichten als Kronzeugen heranziehen, ist der Grund, warum ich diese Arbeit jetzt wieder hervorhole. In der Arbeit wird viel zitiert, weil der Leser sich anhand der Quellen schon beim Lesen durch eigene Wahrnehmung ein Bild machen soll. Es ist sicher gut, für ein vertieftes Studium die angegebene Literatur heranzuziehen.

Die Gesinnung Rudolf Steiners

Wie kaum ein anderer Mensch, ausgenommen etwa vielleicht Paulus von Tarsus oder Aristoteles, wird Rudolf Steiner von vielen Zeitgenossen als Autorität in Weltanschauungsangelegenheiten betrachtet und manchmal für ihre Zwecke mißbraucht. Neuerdings geschieht dies von Ernst-Otto Cohrs1 unter Berufung auf ein Buch von Georg Werner Haverbeck2. In dem Aufsatz von Cohrs und in dem Buch von Haverbeck geht es unter anderem um die Frage der Schuld am 1. Weltkrieg. Cohrs erweckt dabei den Eindruck, Steiner sei ein Deutschnationaler, der sich nur gegen Bolschewismus und westliche Demokratie, aber nicht gegen Erscheinungen wie den Nationalsozialismus gewendet habe. Es wird in den Kreisen, die dieses Thema immer wieder hochspielen, vergessen, daß Rudolf Steiner sich deutlich gegen jede großdeutsche Machtpolitik gewendet hat. Er vertrat im Gegenteil die Ansicht, daß die Gründung des Bismarck-Reiches für die weltgeschichtliche Aufgabe der Deutschen ein Unglück gewesen sei, weil dadurch an die Stelle der geistesgeschichtlichen Aufgabe der Deutschen ein rein machtpolitisches Streben getreten sei. Man kann die Tatsache rein machtpolitischer Intentionen der damaligen deutschen Politik in den Memoiren Bismarcks bestätigt finden. Bismarck, der Künstler des Machtgleichgewichtes in Europa, war ganz in nationalistischem Stammesdenken befangen, aber er hat schon am Ende seines Lebens gesehen, wohin der Weg unter der Führung von Wilhelm II. gehen mußte. Man kann seine Beurteilung von Wilhelm II. nachlesen3.

Aber Bismarck selber hatte die Grundlagen für den Weg in die Katastrophe gelegt, so daß Johannes Tautz4 mit Recht sagen konnte, daß Bismarck, Wilhelm II. und Hitler sich durch die Tatsachensprache der Geschichte als die "größten Feinde des mitteleuropäischen Geistes" erwiesen haben.

Im folgenden sollen nun Rudolf Steiners politische Ansichten vor dem Hintergrund seiner Weltanschauung untersucht werden. Dabei kann es nicht darum gehen, Rudolf Steiner zu verteidigen. Das hat er nicht nötig und es steht uns auch nicht an. Aber für unsere Zeit ist es wichtig, zu klaren Urteilen über die zeitgeschichtlichen Vorgänge zu kommen. Nur dadurch kann dem aufkommenden Ungeist wirksam begegnet werden. Rudolf Steiners Denken kann man nur in seinem Gesamtzusammenhang beurteilen, einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene äußerungen können nicht richtig bewertet werden. Dies ist der Fehler, den Leute wie Cohrs machen.--- Das Ergebnis darf vorweggenommen werden. Er vertrat dieselbe Ansicht wie Schiller5, der in einem Gedichtfragment schreibt:

Das ist nicht des Deutschen Größe,
Obzusiegen mit dem Schwert,
In das Geisterreich zu dringen,
Vorurteile zu besiegen,
Männlich mit dem Wahn zu kriegen,
Das ist seines Eifers wert.

Rudolf Steiner war im besten Sinne Demokrat. Er schreibt im Juli 1919: "Unter den bedeutsamen Fragen, die in der Gegenwart, aus der Weltkriegskatastrophe heraus, die Umwandlung in ganz neue Formen durchmachen, ist die der Demokratie. daß Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muß, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben. Die Weltkriegskatastrophe hat die Unmöglichkeit einer Weiterentwicklung alles dessen erwiesen, was der Demokratie widerstrebt. Alles Anti-Demokratische hat sich selbst in die Vernichtung hineingeführt."6

Dieses Zitat muß man, um es voll verstehen zu können, in den Kontext des Denkens von Rudolf Steiner hineinstellen. Steiner war Individualist. Er konnte sich nicht vorstellen, daß geistige Angelegenheiten der Einzelpersönlichkeit demokratisch durch Mehrheitsbeschlüsse entschieden werden. Er stellte sich vor, daß Angelegenheiten, bei denen fachliches Wissen und besondere individuelle Fähigkeiten erforderlich sind, auch von denen entschieden werden, die dieses Wissen und diese Fähigkeiten besitzen. Also mußte er das besondere Gebiet, in dem durch Mehrheitsbeschlüsse entschieden werden kann, abgrenzen. Diese Abgrenzung wurde von ihm durch eine menschenkundliche (anthroposophische) Erkenntnis geleistet. Er schreibt in dem schon oben zitierten Aufsatz:

"Für das, was seit drei bis vier Jahrhunderten zum modernen Staate geworden ist, fordert die Menschheit die Demokratie. Soll diese Demokratie wahrhaftige Tatsache werden, dann muß sie auf diejenigen Kräfte der Menschennatur aufgebaut sein, die sich wirklich demokratisch ausleben können. Sollen aus Staaten Demokratien werden, dann müssen diese Einrichtungen sein, in denen die Menschen zur Geltung bringen können, was das Verhältnis eines jeden erwachsenen, mündig gewordenen Menschen zu jedem anderen regelt. Und jeder erwachsene, mündig gewordenen Mensch muß gleichen Anteil haben an dieser Regelung. Verwaltung und Volksvertretung müssen so gehalten sein, daß sich in ihnen auslebt, was aus dem Bewußtsein eines Menschen sich ergibt einfach dadurch, daß er ein seelisch gesunder, mündiger Mensch ist."6

Diese Sätze enthalten nicht nur eine Bestimmung des Begriffs Demokratie, sondern zugleich eine Bestimmung der Idee "demokratischer Staat". Der demokratische Staat soll alles regeln, was Mensch von Mensch berechtigterweise fordern kann. Damit ist gesagt, daß der demokratische Staat das Rechtsleben verwalten und gestalten soll. Es ist bemerkenswert, daß diese Staatsidee nicht an die Ideen Nation oder Volk gebunden ist. Sie ist vollständig übernational und deswegen konträr zur Nationalstaatsidee oder zum Volksstaat. Steiner hat deswegen den Mitteleuropäern immer wieder die Schweiz als Vorbild für ein Staatswesen hingestellt, in dem verschiedene Völker friedlich und fruchtbar zusammenleben und zusammenwirken. Er würde deshalb sicher auch nicht gut gefunden haben, daß das südslawische Staatsgebilde Jugoslawien in so schrecklicher Weise zerfällt. Ganz sicher aber hätte er den Grund für den Zerfall in der vorausgegangenen Unterdrückung der Minderheiten und Individuen gesehen und den Zerfall auf diesem Hintergrund vielleicht sogar als unvermeidlich betrachtet.

"Will man aus dem bisherigen Staate eine wahre Demokratie herausgestalten, so muß man aus dieser alles dasjenige herausnehmen, und es seiner vollen Selbstverwaltung überliefern, über das nur die individuelle Entwicklung des besonderen Menschen die rechten Impulse entwickeln kann, und das keine Regelung erfahren kann durch dasjenige, was in jedem Menschen einfach dadurch lebt, daß er ein mündiger Mensch geworden ist." 6

Es ist wohl schon deutlich geworden, daß sich Steiners Staatsgedanke nicht mit irgendwelchen Nationalismen verträgt, auch wenn sie sich noch so liberal gebärden würden. Insofern ist schon an dieser Stelle der Untersuchung klar, daß konservative Vorstellungen von Volk und Vaterland für Rudolf Steiner obsolet waren. Um dies noch klarer zu machen, sei noch eine äußerung Steiners aus dem Jahr 1919 zitiert:

"Diese Sache ist außerordentlich wichtig, um gerade unsere Zeit zu verstehen. Unsere Zeit, das habe ich gestern betont, hat es im Grunde genommen schwer mit irgend einer Lösung der sozialen Frage, und zwar, weil überwiegend antisoziale Triebe in der gegenwärtigen Menschheit vorhanden sind. Antisoziale Triebe sind im Verhältnis von Einzelmensch zu Einzelmensch vorhanden. Manchmal aber auch kaschieren sich, verbergen sich die antisozialen Triebe. Sie verbergen sich zum Beispiel heute hinter den nationalen Aspirationen, die sich in intensiver Weise über die Erde hin geltend machen. Mit diesen nationalen Aspirationen verbindet man ja heute etwas, was man noch immer für selbstverständlich ansieht, während das Selbstverständliche für das wirkliche Entwickeln des Menschen in unserer Zeit darin besteht, daß beginnen müßte im entscheidensten Sinne ein internationales Element. Allein da ist mit den heutigen Menschen noch schwer zu sprechen. Für die anderen Nationen sehen gewöhnlich alle Leute ein, daß das Internationale beginnen sollte; nur für die eigene gewöhnlich nicht."7

Die Erfahrung, die hier geschildert wird, kann man ja auch heutzutage noch machen. Es sind die Urteile von der Sorte:"Alle Schotten sind sparsam." Hier hat man es nicht nur mit einem Pauschalurteil zu tun, das wäre noch nicht das Schlimmste, sondern man hat es zu tun mit den Instinkten, den Gruppentrieben aus denen heraus Urteile dieser Art gebildet werden. Hier wird aus einem Verhaftetsein in Gruppenseelenhaftigkeit über Gruppen, über Gemeinschaften geurteilt. Diese Form der Urteilsbildung über andere Menschen muß ganz grundsätzlich abgelehnt werden. Dagegen ist eine Urteilsbildung über einen anderen einzelnen Menschen, der Tatsachen, Fakten zugrundeliegen, durchaus möglich und im Leben auch nötig. Aber man darf die Gruppe, zu der der beurteilte Mensch gehört, nicht stimmungsmäßig mitbeurteilen. Ein Urteil über einen Einzelnen darf nicht abfärben auf die Gruppe. Bevor Rudolf Steiner 1917 in Dornach zu Angehörigen der miteinander Krieg führenden Nationen über die Kriegsereignisse spricht, macht er diese Zusammenhänge klar.

"So spricht man heute zum Beispiel von den Gegensätzlichkeiten der Völker, man fällt Urteile über die Völker. Unter uns sollte das ja selbstverständlich nicht sein; aber wir müssen uns manchmal zur Klarheit bringen, was um uns ist, um einen richtigen Beurteilungsmaßstab zu erwerben. Man fällt also Urteile über die Völker und versteht denjenigen nicht, der keine solchen Urteile fällt, sondern einfach beurteilt, was real ist; denn solche Urteile über die Völker treffen niemals die Realität. Wenn aber einer die Wirklichkeiten beurteilt und dabei dies oder jenes sagen muß, über diese oder jene Regierung, über diesen oder jenen Mann, über etwas, was sich innerhalb dieser oder jener Politik abgespielt hat, sei es in einem mehr alltäglichen Zusammenhang, oder indem er es auf einen höheren Beurteilungsstandpunkt hinaufrückt, so beurteilt man ihn so, als ob er etwas ganz anderes im Sinn hätte, als in Wahrheit der Fall ist. Wie leicht kann es vorkommen, daß jemand etwa ein Urteil abgibt über irgendeinen Staatsmann der Gegenwart, der in die gegenwärtigen Angelegenheiten verwickelt ist. Kommt dieses Urteil jemandem zu Ohren, der dem gleichen Volke angehört wie der betreffende Staatsmann, so fühlt er sich getroffen; denn er bezieht das, was auf die Wirklichkeit gemünzt ist, nicht auf diese Wirklichkeit, sondern auf irgend etwas, was gar nicht zu definieren ist, wenn man es nicht im Lichte der geisteswissenschaftlichen Wirklichkeit betrachtet: er bezieht es auf sein Volk, wie er sagt, oder auf sonst irgend ein Volk."8

Rudolf Steiner lehnt es also ab, die Völker zu beurteilen. Völker sind für ihn Gemeinschaften, die überhaupt nicht beurteilt werden können; sie besitzen einen Volksgeist und entfalten damit in einem übertragenen Sinn so etwas wie Individualität. Deshalb muß man zwischen Volk und Staat genau unterscheiden. Die Konsequenz aus dieser Auffassung ist, daß ganz selbstverständlich mehrere Völker in einem Staat zusammenleben können. Formen solchen Zusammenlebens zu entwickeln, durch die sich keines der Staatsvölker benachteiligt fühlte, darin sah er eine Aufgabe österreich-Ungarns.

Es kam für Rudolf Steiner noch etwas hinzu. Er blickte auf die Zivilisationsentwicklung im 19. Jahrhundert und fand: "Dieser Gang der Entwicklung drückt sich ja insbesondere im alleräußersten materiellen Geschehen aus: im mechanischen Geschehen. Dasjenige, was wir Fabrikwesen, Industriewesen, Maschinenwesen nennen können, hat ja in diesem materialistischen Zeitalter bisher seine größte Vollkommenheit erlangt. Und ganz naturgemäß ist der Fortschritt auf diesem Gebiete ein anationaler, man könnte auch sagen ein internationaler, ein Weltfortschritt. Denn ob eine Eisenbahn oder eine ähnliche Einrichtung in England, in Russland, in China oder in Japan gebaut wird, die Gesetze, nach denen dies geschieht, die Kenntnisse, die man dazu braucht sind überall dieselben, weil alles dies nur nach mechanischen, vom Menschen losgelösten Gesichtspunkten bewerkstelligt wird; so daß in der Tat ein internationales Prinzip auf diesem Gebiete in der allerumfänglichsten Weise Platz gegriffen hat."9

Weil dies so ist, muß das Geistesleben der Menschheit international werden. "Damit, daß dies geschehen ist haben wir auf der Erde gewissermaßen einen Körper vor uns, einen über die ganze Erde sich hinziehenden Leib. Dieser Leib braucht eine Seele, und diese Seele sollte ebenso international sein. Und als solche Seele wurde gerade die Geisteswissenschaft in Anspruch genommen, weil sie in der Tat, so wie es sein muß, eine Erkenntnis ist, die nicht mit irgendeinem Individuellen oder Gruppenhaften auf der Erde zusammenhängt, ..."9

Wenn man den Staatsbegriff so auffaßt, wie Rudolf Steiner, dann hat der Nationalstaat, bei dem ja das Staatswesen durch ein einzelnes Volk dominiert wird, keine Berechtigung. Dann muß im modernen Staat nicht nur der Einzelne, sondern auch das einzelne Volk, die Minderheit, zu ihrem Recht kommen. Dann ist zu überlegen, welche Grundrechte eine Gruppe als Volk zu beanspruchen hat. Die Frage der Minderheitenrechte ist entscheidend dafür, ob verschiedene Völker in einem Staatswesen gedeihlich zusammenleben können.

Eine weitere wichtige Frage stellt sich nach dem Wesen der Politik. Was ist eigentlich Politik? Der Politiker vertritt die Interessen von Gruppen. Das ist berechtigt und notwendig. Er arbeitet also an den Rechtsbeziehungen zwischen den Einzelmenschen und den Gruppen. Damit ist er an der Ausgestaltung des Staatswesens beteiligt. Damit unterliegt er aber auch zugleich der öffentlichen Kritik. Nun ist es durchaus nicht gleichgültig, auf welchem Gesinnungshintergrund politische Kritik geschieht. Es ist auch von Belang ob die Kritik in ruhigen Zeiten oder in einer emotional aufgeladenen Situation, z.B. während eines Krieges geübt wird. Wie Rudolf Steiners äußerungen während der Zeit des ersten Weltkrieges zu verstehen sind, ist damit klar. Wenn er kritisiert oder klarstellt, meint er in jedem einzelnen Fall politische Vorgänge, d.h. tatsächliches Verhalten von Einzelpersönlichkeiten. Er hat die persönliche Ehre der Kritisierten nie angegriffen. Allerdings verhalten sich die Politiker selber oft nicht so. Schon Bismarck beklagte im vergangenen Jahrhundert einen Verfall der politischen Sitten:

"Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über deren Wohlerzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel aufgekommen sind, sobald sie in Kämpfe der Art geraten, sich von den Regeln des Ehrgefühls und der Schicklichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden halten und aus einer karikierenden übertreibung des Satzes "salus publica suprema lex" \footnote{Das Wohl des Volkes steht über dem Gesetz.} die Rechtfertigung für Gemeinheiten und Roheiten in Sprache und Handlungen ableiten, durch welche sie außerhalb der politischen und religiösen Streitigkeiten sich selbst angewidert fühlen würden."3

Wie hat Rudolf Steiner selber sich nun zur Kriegsschuldfrage geäußert? Hat er einem einzelnen Volk als Gruppe eine Kriegsschuld zugewiesen? Am 10.12.1916 äußert er sich in Dornach folgendermaßen dazu:

"Ich sagte, für denjenigen, der die letzten Jahrzehnte geistig bewußt mitgemacht hat, liegt ein Hauptgrund für die gegenwärtigen schmerzlichen Ereignisse in der die ganze Welt durchtränkenden Furcht, die die einzelnen Menschen voreinander hatten, wenn sie sich dessen auch nicht bewußt waren, die vor allen Dingen aber die einzelnen Nationen voreinander gehabt haben. Und würde man sehenden Auges diese Furchtursache haben verfolgen können, so würde man nicht so viel Unsinn über die Kriegsursachen reden, wie man heute redet. Diese Furcht konnte so bedeutsam sein, weil sie als Gefühlszustand hineinverwoben ist in dasjenige, was ich Ihnen gestern anhand von Beispielen erzählte. Betrachten Sie das als eine Art Skizze."8

Rudolf Steiner hat also nicht den Nationen, geschweige denn einer einzelnen Nation die Schuld am Krieg zugewiesen, aber er weist auf die Furcht hin, die die Nationen voreinander gehabt haben. Selbstverständlich hat er eine Schuld der deutschen Nation ebenso abgelehnt wie eine Schuld anderer Nationen. Den Begriff der Kollektivschuld konnte er nicht anerkennen. Dieser setzt die bedingungslose Unterwerfung der Individualität unter die Blutsbande voraus. Dies gehört einer längst vergangenen Zeit an, als das alte Familienrecht galt.

Man kann und soll sich als Einzelindividualität für die Untaten seines Bruders schämen, aber eine Verantwortlichkeit im Sinne von Schuld muß man ablehnen. Wäre Kollektivschuld etwas Berechtigtes, dann könnte man auch Sippenhaft nicht ablehnen. Man muß erkennen, daß diese Haltung Steiners nicht in volkstümelnden Nationalismus umgedeutet werden kann, sondern geradezu aus seinem Individualismus folgt. An der Darstellung von Cohrs ist außerdem zu beanstanden, daß er Rudolf Steiner nur als Gegner von Kommunismus und Kapitalismus, aber nicht als Gegner des Nationalismus hinstellt, im Gegenteil sogar durch die Auswahl der Zitate den Eindruck erweckt, bei Steiner läge deutsch-nationale Gesinnung vor. "Der Materialismus als Philosophie und Lebenspraxis hat uns in diesem Jahrhundert sein Doppelantlitz durch seine politische und wirtschaftliche Verwirklichung enthüllt: im inzwischen zusammengebrochenen Kommunismus Osteuropas und im Kapitalismus und Weltherrschaftsanspruch der USA. Diese sich zwiefach äußernde Macht erkannte Steiner als die entscheidende Bedrohung der Menschheit und ihrer weiteren Entwicklung."1

Damit ist der Nationalismus und insbesondere der Nationalsozialismus einfach aus dem Blickfeld des Lesers gerückt. Wer nur den Artikel von Cohrs kennt, muß den Eindruck bekommen, Steiner sei Nationalist gewesen. Eine Anerkennung des Volkes als geistig-seelischer Wesenheit hat natürlich gar nichts mit Nationalismus zu tun. Am Ende des sogenannten Volksseelenzyklus sagt Steiner:

"Durch die Geisteswissenschaft - das werden wir immer mehr einsehen - wird alle Menschen-Zersplitterung aufhören. Deshalb ist gerade jetzt die richtige Zeit, die Volksseelen kennenzulernen, weil die Geisteswissenschaft da ist, die uns dazu bringt, die Volksseelen nicht einander gegenüberzustellen in Opposition, sondern sie aufzurufen zu harmonischem Zusammenwirken."10

Im Jahre 1919 äußert sich Steiner zu diesem Thema noch einmal in verschärfter Form: "Sie haben in der letzten Zeit durch die Welt gehen hören, tönen hören -- hören es noch immer --, daß aufgerichtet werden müßten nationale Staaten, nationale Reiche. Von "Freiheit der einzelnen Völker" hört man viel. Nun, die Zeit, in der nach den Bluts- und Stammeszusammenhängen Reiche gegründet werden sollen, die ist in der Menschheitsentwicklung vorüber. Und wenn heute appelliert wird an Volks-, Stammes- und dergleichen Zusammenhänge, an Zusammenhänge, die nicht aus dem Intellekt oder aus dem Geist entspringen, dann wird Disharmonie unter der Menschheit gefördert."11

Und in Dornach: "Alte soziale Strukturen sind hervorgegangen aus Blutsverbänden, aus der kleinen und großen Familie, aus der Sippe, den Klassen und so weiter. Die haben sich dann erweitert zu Volkszusammenhängen. Heute zappelt die Menschheit, indem sie in einer verlogenen Weise glaubt, sich an solche Zusammenhänge halten zu können, in Volkszusammenhängen, während sie im Grunde längst überwunden hat, was Volkszusammenhänge sind, während längst die Notwendigkeit da ist, zu anderen sozialen Zusammengehörigkeiten zu kommen, als sie die Blutsverwandtschaft durch die Völker darstellt." 12

Was war das Dritte Reich anderes, als ein solcher von Steiner eindeutig abgelehnter Zusammenhang? Was gab es nicht alles im Deutschland des Dritten Reiches? Rassenhaß, deutsch-nationale Überheblichkeit, Führerkult, geistige Unterdrückung, Gleichschaltung, Unterdrückung der freien Meinungsäußerung und so weiter. Damals wurde sichtbar, wogegen sich Steiner gewendet hatte und auch, wofür er gekämpft hatte.

Man kann mit denselben Worten, je nachdem, welche Stimmung man hineingießt, geradezu Konträres sagen. Man lese unter diesem Gesichtspunkt Haverbecks Buch. Man halte zusammen die Seiten 107, 108, 209 bis 243 und die Seiten 327 und 328, und man wird dann eine implizit ausgesprochene Aussage über die Führung des dritten Reiches, insbesondere über Hitler entdecken. Das Buch ist durch seinen Duktus und die Stimmung, die es durchzieht, geeignet, einen neuen deutschen Chauvinismus zu begründen. Genau das können wir Deutschen, wenn wir uns recht verstehen, nicht wollen, und wir können nicht zulassen, daß Rudolf Steiner für eine derartige Tendenz mißbraucht wird.

In seinem Buch "Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschauung" stellt Rudolf Steiner dar, daß man die Individualität insofern sie frei ist, nicht nach den Gesetzen der Gattung beurteilen kann. "Wer die Menschen nach Gattungscharakteren beurteilt, der kommt eben gerade bis zu der Grenze, über welcher sie anfangen, Wesen zu sein, deren Betätigung auf freier Selbstbestimmung beruht. Was unterhalb dieser Grenze liegt, das kann natürlich Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein. Die Rassen-, Stammes-, Volks- und Geschlechtseigentümlichkeien sind der Inhalt besonderer Wissenschaften. Nur Menschen, die allein als Exemplare der Gattung leben wollten, könnten sich mit einem allgemeinen Bilde decken, das durch solche wissenschaftliche Betrachtung zustande kommt. Aber alle diese Wissenschaften können nicht vordringen bis zu dem besonderen Inhalt des einzelnen Individuums. Da, wo das Gebiet der Freiheit (des Denkens und Handelns) beginnt, hört das Bestimmen des Individuums nach Gesetzen der Gattung auf.(Kapitel XIV Individualität und Gattung)13" Vergleicht man diese Stelle aus der Philosophie der Freiheit mit den anderen hier zitierten Aussagen Steiners, dann erkennt man die Konsistenz im Denken Steiners und kann ihn nicht für einen Rassisten halten.

Ein Rassist wäre also jemand, der den einzelnen Menschen nur nach den Eigentümlichkeiten der Rasse beurteilt und der sich außerdem ein Bild der Rasse nach gewissen Vorurteilen, Sympathien oder Antipathien gegenüber einzelnen Mitgliedern einer Rasse macht. Der Rassist beurteilt also ganze Menschengruppen nach den Eigenschaften einzelner Individuen und umgekehrt das einzelne Individuum nach den allgemeinen Eigenschaften der Gruppe. Er diskriminiert die ganze Gruppe und leugnet, daß das Individuum über die Gruppeneigentümlichkeiten hinauswachsen kann und sich damit erst sein eigentliches Menschentum erringt.

Literaturverzeichnis

  1. Ernst-Otto Cohrs, Zur Wahrhaftigkeit in der Geschichtschreibung unseres Jahrhunderts. DGG 1992, Heft 1.
  2. Georg Werner Haverbeck, Rudolf Steiner, Anwalt für Deutschland, München 1989.
  3. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. München 1990, Propyläen-Verlag, S. 503 ff, S. 359 ff, S. 388.
  4. Johannes Tautz, Helmuth von Moltke, 1848 - 1916, Dokumente zu seinem Leben und Wirken. Basel 1993, Perseus-Verlag, Bd. 2, S. 27.
  5. Friedrich Schiller, Des Deutschen Größe. München 1987, Hanser Ausgabe, Bd. 1, S. 475.
  6. Rudolf Steiner, Die Dreigliederung des sozialen Organismus. GA 24, Dornach 1982, Die Demokratie und der Sozialismus.
  7. Rudolf Steiner, Vergangenheits und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen. GA 190, Dornach, 22.3.1919, S. 34, S. 35.
  8. Rudolf Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit, 1. Teil. GA 173, Dornach, 4.12.1916, S. 17, S. 83.
  9. Rudolf Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit, 2. Teil. GA 174, Dornach, 6.1.1917, S. 36, S. 37.
  10. Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie. GA 121, Kristiania, 17.6.1910, S.203.
  11. Rudolf Steiner, Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. GA 193, Bern, 4.11.1919, S. 190.
  12. Rudolf Steiner, Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. GA 191, Dornach, 19.10.1919, S.173.
  13. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Dornach 1987