Rechnen in der Waldorfschule - heute.

Ein Versuch die Zahlen als Bilder zu begreifen, die dazu dienen,
die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen.
Peter Nantke, 1995

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Einleitung

Der Lehrer, der mit Kindern im Schulunterricht rechnen darf, begegnet einer elementaren Freude an dieser Tätigkeit. Nicht nur die begabten Kinder rechnen gerne, sondern alle. Natürlich gilt es, diese Freude zu erhalten und zu pflegen. Aber es stellt sich auch die Frage, warum wohl das Rechnen einen solchen Spaß, eine solche Freude bereiten kann? Könnte es sein, daß das Rechnen aus den Wurzeln des Menschseins selber hervorquillt, daß es zu den ursprünglichsten Fähigkeiten des Menschen überhaupt zu zählen ist? Dann würde man das Rechnen nicht etwa deswegen zu pflegen haben, weil man es im Leben benötigt, sondern man würde es pflegen, weil es ein grundlegendes Element der Menschenbildung ist. Man kann aber auch sagen, das Rechnen habe deswegen einen so großen Wert in der Lebenspraxis, weil sich der Mensch selber in der Praxis auslebt. Daß dies wirklich so ist, soll durch die folgenden Gedanken zu zeigen versucht werden.

Einer der bedeutensten Mathematiker der Neuzeit, Leopold Kronecker tat im Jahr 1886 vor der Berliner Naturforscher-Versammlung den Ausspruch: "Die natürlichen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk." (Kroneckers Äußerung ist nur mündlich überliefert. Sie soll auch öfter in seinen Seminaren gefallen sein.) Dieses Wort zeigt, daß man auch als moderner Mathematiker nicht so ohne weiteres weiß, was die Zahlen, mit denen man doch täglich rechnet, eigentlich sind. Ein anderer Mathematiker, Richard Dedekind schreibt 1887 im Vorwort seiner Schrift "Was sind und was sollen die Zahlen?"
Lit1

"Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte Frage lautet: die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen."

In H. v. Mangoldt's Einführung in die höhere Mathematik, findet man folgende Ausführungen:

"Der Begriff der Zahl erfährt beim Aufbau der Arithmetik wiederholt Erweiterungen. Auf der untersten Stufe deckt er sich mit dem der ganzen positiven oder kurz der natürlichen Zahlen, worunter man die Zahlen 1, 2, 3, ... versteht. Hier hat die Besinnung einzusetzen. Was sind die natürlichen Zahlen? Diese Frage ist sehr leicht gestellt; ihre Beantwortung dagegen ist schwer und gehört mehr in den Bereich der Philosophie als in den der Mathematik. Jene versucht, in irgendeinem Sinne das Wesen der in Frage kommenden Dinge unmittelbar zu erfassen. Diese dagegen, da noch kein derartiger Versuch voll befriedigt hat, begnügt sich im allgemeinen damit, die Eigenschaften ihrer Objekte festzustellen und die Tatsache zu belegen, daß Objekte aufgezeigt werden können, die diese Eigenschaften haben."
Lit2

Der Fachmathematiker scheint also über das Wesen der Zahlen nicht mehr zu wissen als das freudig rechnende Schulkind. Er unterscheidet sich vom Schulkind nur dadurch, daß er sein Nichtwissen bemerkt und es in wohlgesetzten Worten zum Ausdruck bringt. Auch Dedekinds Antwort ist nur insofern eine Antwort, als sie ausdrückt, daß die Zahlen offenbar durch menschliche Tätigkeit entstehen. Es handelt sich dabei um die Tätigkeit des Denkens. Indem wir uns im Reich der natürlichen Zahlen bewegen, d.h. rechnen, denken wir. Auch das ganz junge Kind, indem es zu zählen und zu rechnen beginnt, denkt schon und zwar ganz eigenständig, ganz selbständig! Das Kind ist schon, ganz ohne unser Zutun mit der Fähigkeit des Denkens begabt!

Diese Erkenntnis ist für den Lehrer, den Pädagogen überhaupt, das heißt also auch für die Eltern, denn sie sind ja kraft ihrer Elternschaft Pädagogen, von grundlegender Bedeutung. Denn was bedeutet diese Erkenntnis? Wir müssen jetzt nur ein wenig weiterdenken, dann sehen wir, daß wir dem Kind das Denken nicht beibringen können. Das Kind bringt sich das Denken selber bei, es holt das Denken durch seine Eigentätigkeit aus den Tiefen seines Wesens herauf. Wir leisten durch unsere pädagogischen Bemühungen nur Hilfestellung.

Die Einführung der Zahlbegriffe.

Wir wollen nun versuchen zu entdecken, wie die Zahlbegriffe im Menschen gebildet werden. Was ist zählbar? Zählbar sind nur solche Dinge, die unter einen Begriff fallen. Will ich Kastanien zählen, dann muß in mir der Begriff "Kastanie" leben. Erst dann können Kastanien gezählt werden. Zunächst muß ich also die Fähigkeit besitzen, Begriffe zu bilden, erst dann kann ich zählen. Man ist natürlich geneigt, dies für eine Trivialität zu halten, aber wenn man sich klarmacht was der Erschaffung eines Begriffes vorangeht, bemerkt man sehr bald, daß die scheinbar einfache Tätigkeit des Zählens schon eine höchst komplizierte Angelegenheit ist. Bevor man zählen kann muß man ein Ding identifizieren, benennen, unterscheiden, d.h. inhaltlich erkennen können. Das setzt die Fähigkeit des Wahrnehmens und des Denkens schon voraus. Mein Ichbewußtsein muß erwacht sein, ich muß mich selber von der Welt unterscheiden können, um einen Begriff bilden zu können.

"Denn als Gott der Herr gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte Er sie zu dem Menschen, daß Er sähe wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei Tiere nennen würde, so sollten sie heißen."
Lit3

Den Dingen der Schöpfung Namen zu geben und damit ihr Wesen auszusprechen ist eine Fähigkeit, die dem Menschen geschenkt und von allen Erdenwesen ihm allein vorbehalten wurde. Auch die höchsten Tiere leben mit den Dingen; in ihrem Bewußtsein erkennen sie sich nicht als von ihrer Umgebung abgesonderte Einzelwesen. Das ist der Grund, warum die Tiere nicht zählen können. Der Mathematiker und Philosoph Bernard Bolzano setzt für die Fähigkeit des Zählens die Abstraktionsfähigkeit voraus, wenn er sagt:

"Es gibt Inbegriffe, die, obgleich dieselben Teile A, B, C, D ... enthaltend, doch nach dem Gesichtspunkte (Begriffe) unter dem wir sie so eben auffassen sich als verschieden (wir nennen es wesentlich verschieden) darstellen, z.B. ein ganzes und ein in Stücke zerbrochenes Glas als Trinkgefäß betrachtet. Wir nennen dasjenige, worin der Grund dieses Unterschiedes an solchen Inbegriffen besteht, die Art der Verbindung oder Anordnung ihrer Teile. Einen Inbegriff, den wir einem solchen Begriffe unterstellen, bei dem die Anordnung seiner Teile gleichgültig ist an dem sich also für uns nichts Wesentliches ändert, wenn sich bloß diese ändert), nenne ich eine Menge; und eine Menge, deren Teile alle als Einheiten einer gewissen Art A, d.h. als Gegenstände, die dem Begriffe A unterstehen, betrachtet werden, heißt eine Vielheit von A."
Lit4

Dies bedeutet, daß vor dem Zählen sogar die Fähigkeit zur Abstraktion wenigstens keimhaft vorhanden sein muß. In der Tat kann man Kastanien oder Erbsen nur dann zählen,wenn man von den Einzelexemplaren absehen kann und sie als Gleiche einer Art erkennt. Da sich Denken in den Tätigkeiten Abstrahieren, Gliedern, Unterscheiden, Verbinden und Benennen vollzieht, muß die Fähigkeit zu diesen Tätigkeiten schon vor dem Zählen vorhanden sein. Es ist allerdings eine Erfahrung, daß gerade die Fähigkeit zur Abstraktion beim Kind nur angelegt ist und daß ihre volle Ausbildung allergrößte Mühe und vor allem auch Behutsamkeit des Lehrers erfordert.

Die erste Aufgabe des Rechenunterrichtes besteht nun darin, die Zahlbegriffe zu erarbeiten. Hier wird der Plural mit vollem Bewußtsein gebraucht, denn es gibt nicht von vornherein einen Allgemeinbegriff Zahl. Bolzano benutzt mit Bewußtsein das Wort Vielheit. Eine Vielheit muß gleichsam bearbeitet, durchdacht werden, damit ein Zahlbegriff entstehen kann. Ist ein konkreter Zahlbegriff gebildet, dann ermöglicht er, verschiedene Vielheiten unter dem Gesichtspunkt der Anzahl ihrer Mitglieder als gleichgroß zu erkennen. Ein solcher Vergleich ist nur möglich, wenn man von den qualitativen Bestimmungen der Vielheiten absieht, d.h. wenn man abstrahiert. Deshalb geht man im Rechenunterricht der Waldorfschule bei der Einführung der Zahlen so vor, daß man konkrete Vielheiten zunächst einfach gliedert. Zum Beispiel kann man 12 Kastanien nehmen und diese Vielheit in möglichst vielfältiger Weise, aber ganz anschaulich, gliedern. Dabei kann folgendes entstehen:

12 = 7 + 5
12 = 6 + 6
12 = 9 + 3
12 = 3 + 4 + 5
12 = 4 + 4 + 4

Im letzten Beispiel erscheint die 4 dreimal. Die drei Vierheiten bilden in ihrer Zusammenfassung zur 12 eine Ganzheit. Diese Zwölf ist eine Vielheit, die drei Zahlen (Vierheiten) als Mitglieder besitzt, deswegen hat sie einen abstrakteren Charakter, als die Vielheiten, deren Mitglieder Kastanien sind; es liegt eine höhere Abstraktionsebene vor. Dies erst ermöglicht die Multiplikation, d.h. die Zerlegung der 12 in Faktoren. Wenn wir urteilen

12 = 3 * 4

dann spielt in dieser Zerlegung die 3 eine ganz andere Rolle als die 4. Die 3 finden wir nämlich durch Abzählen der 4. Dieses Gliedern von konkreten Vielheiten übt man nun mit den Kindern. Wichtig ist dabei, daß man immer von einer anschaulichen Ganzheit ausgeht. Gegenstände, die beziehungslos zusammengestellt werden, können für ein Kind keine Ganzheit sein. Drei Vierecke und 4 Murmeln und 5 Pfauenfedern bilden in diesem Sinne keine Ganzheit für das Kind. Es kommt also darauf an, daß die Zahlbegriffe durch Zergliederung von etwas entstehen, was wesentlich zusammengehört, was eine Einheit bildet und nicht das Ergebnis einer Zusammenfügung, einer Addition von eigentlich nicht zusammengehörenden Dingen ist. Das Gliedern der 12 setzt voraus, daß die Kinder die kleineren Zahlen schon kennen. Man wird deshalb mit der 1 anfangen, dann aus der 1 die 2 entstehen lassen, dann die 3 u.s.w. Wenn man nicht gleich die arabischen Ziffern für die Schreibung der Zahlen einführen will, kann man für's erste mit den anschaulichen römischen Zahlzeichen beginnen. Welche Ganzheiten sind denn aber für die Erarbeitung der Zahlen geeignet? Rudolf Steiner empfiehlt, die Finger, die Zehen überhaupt den menschlichen Leib zu benutzen. Dies sei mit seinen eigenen Worten hier verdeutlicht:

"Denken Sie einmal, Sie nehmen selbst das kleinste Kind, das sich noch recht ungeschickt dabei benimmt, und Sie sagen ihm: Sieh einmal, du stehst jetzt da. Hier nehme ich ein Stück Holz. Da habe ich ein Messer. Ich zerschneide nun dieses Stück Holz. Kann ich das auch mit dir machen? Da wird das Kind doch selber darauf kommen, daß ich das mit ihm nicht machen kann. Und nun kann ich dem Kinde sagen: Sieh einmal, wenn ich das Holz zerschneiden kann, dann ist das Holz also nicht so wie du, und du nicht so wie das Holz, denn dich kann ich nicht zerschneiden. Es ist also ein Unterschied zwischen dir und dem Holz. Der Unterschied besteht darinnen, daß du eine Einheit bist. Das Holz ist keine Einheit. Du bist eine Einheit. Dich kann ich nicht zerschneiden. Dasjenige, was du bist, deshalb, weil ich dich nicht zerschneiden kann, das nenne ich eine Einheit.

Nun, man wird jetzt allmählich dazu übergehen, dem Kinde ein Zeichen für diese Einheit beizubringen. Man macht einen Strich: I. Man bringt also dem Kinde bei, daß es eine Einheit ist, und man macht dafür diesen Strich. Nun kann man abgehen von dem Holz und dem Vergleiche mit dem Kinde, und kann jetzt zu dem Kind sagen: Sieh einmal, da hast du deine rechte Hand, da hast du auch deine linke Hand. Und man wird dem Kinde beibringen können: Wenn du nur diese eine Hand hättest, dann könnte sich diese eine Hand überall hinbewegen, wie du selber. Aber wenn du so weitergehst, dann kannst du dir nicht begegnen, du kannst dich nicht angreifen. Wenn sich aber diese Hand und diese Hand bewegen, dann können sie sich angreifen, dann können sie zusammenkommen.Das ist etwas anderes, als wenn du bloß allein gehst. Weil du allein gehst, bist du eine Einheit. Aber die eine Hand kann der anderen Hand begegnen. Das ist nicht mehr eine Einheit, das ist eine Zweiheit. Siehst du, du bist einer, aber du hast zwei Hände. Das bezeichnest du dann so: II.

Auf diese Weise bringen Sie den Begriff der Einheit und der Zweiheit aus dem Kind selbst heraus zustande. Nun gehen Sie weiter, rufen ein zweites Kind heraus und sagen: Wenn ihr aber geht könnt ihr euch auch begegnen, könnt ihr euch auch berühren. Ihr seid eine Zweiheit. Es kann aber noch einer dazukommen. Das kann bei den Händen nicht der Fall sein. So kann man übergehen beim Kinde zur Dreiheit: III.

Auf diese Weise kann man aus dem, was der Mensch selber ist, die Zahl ableiten. Man kommt vom Menschen zu der Zahl. Der Mensch ist etwas Lebendiges, nichts Abstraktes."


Lit5

Diese schöne Darstellung zeigt sehr anschaulich, worauf es ankommt und wie man es praktisch machen kann.

Das Zählen

Während man die Zahlbegriffe bis 12 etwa erarbeitet, kann man schon mit dem Zählen beginnen. Manche Kinder können schon zählen, wenn sie in die Schule kommen. Sie haben es zum Beispiel beim Treppensteigen, bei der Betätigung ihrer Gliedmaßen gelernt. Dies zeigt ganz deutlich, daß das Erleben der Zahlen ganz tief mit der Wahrnehmung des eigenen Leibes und seiner Betätigung verknüpft ist. Da könnte man denken, daß man dann doch gar nicht zählen lernen müßte, wenn das Kind es sowieso wie von selbst lernt, das wäre aber ein Irrtum. Es handelt sich nämlich bei der Pflege des Zählens um eine immer deutlichere Bewußtmachung der Zahlen, so daß aus dem Zählen allmählich das eigentliche Rechnen hervorgehen kann. Rudolf Steiner sagt hierzu:

Das Kind bekommt dann nach und nach die Möglichkeit, die Zahlenreihe zu haben bis zu einem gewissen Grade , meinetwillen zuerst bis 20, dann 100 usw. Aber man gehe auf diese Weise vor, um dem Kinde das Zählen lebendig beizubringen. Ein Kind kann dann zählen. Wirklich zählen soll das Kind zuerst lernen - ich sage das ausdrücklich -, nicht gleich rechnen, sondern zählen. Das Kind soll zählen können bevor man ans Rechnen geht.


Lit5

Ein Beispiel soll zeigen, wie man dies machen kann. Betrachten wir die folgenden Zahlenreihen:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Man läßt die Kinder zählen und betont jedesmal die farbig hervorgehobenen Zahlen ganz stark. Man kann dabei auch in die Hände klatschen lassen oder aufstampfen lassen. Schließlich läßt man die unbetonten Zahlen weg und erhält so eine Einmaleinsreihe. Nun bildet man zwei Gruppen, eine klatscht bei den Zweierzahlen in die Hände, die andere bei den Dreierzahlen. Dadurch wird anschaulich hörbar, daß die Dreierreihe einen Teil der Zweierreihe enthält. Man gewinnt auf diese Weise die Einmaleinsreihen durch rhythmisiertes Zählen. Auch die gegenseitigen Beziehungen werden anschaulich. Diese Tätigkeit macht den Kindern große Freude. Sie erfahren die Zahlen gleichsam mit allen Sinnen. Der Tastsinn, der Gleichgewichtssinn, der Eigenbewegungssinn und das Gehör werden tätig. Man darf nicht versäumen, das Erfahrene in ein anschauliches Bild zu bringen, welches die rhyhmischen Knoten sichtbar macht.

Eine schöne Geschichte kann das Ganze abschließen. In dieser Geschichte kann man auch von der Erfindung des Dezimalsystems erzählen. Man muß spätestens jetzt die arabischen Ziffern einführen gemeinsam mit der Null, die ein besonderes Problem darstellt, weil sie für die Kinder keine Zahl im eigentlichen Sinn ist. Das Dezimalsystem mag man bei der Behandlung der Zehnerreihe einführen; dabei kann man den Kindern klarmachen, daß man das ganze Zahlenreich in Zehnerpäckchen gliedern kann, so daß man, wenn man höher hinauf kommt nun beginnt die Zehnerpäckchen zu zählen. Dabei ist wichtig, möglichst vielseitig an das Erleben der Kinder zu appellieren. Der Kaufmann macht es genauso, wenn er die Kartoffeln oder die Bonbons tütenweise abpackt. So machen wir es auch mit den Zahlen. Jetzt hat man die Grundlage, auf der das kleine Einmaleins gelernt werden kann. Wir führen dazu die Multiplikation mit Hilfe der Reihen ein, die die Kinder inzwischen auswendig können. Die Zwölf eignet sich wieder sehr gut, weil sie eine "reiche" Zahl ist. Die 2, die 3, die 4 und die 6 sind alle in ihr enthalten. Wir zählen jetzt zum Beispiel einfach an den Fingern ab.

2, 4, 6, 8, 10, 12; 12 = 6 * 2;
3, 6, 9, 12; 12 = 4 * 3;
4, 8, 12; 12 = 3 * 4;
6, 12; 12 = 2 * 6;

Das sogenannte Kommutativgesetz von der Vertauschbarkeit der Faktoren wird den Kindern jetzt noch nicht erklärt, es ist einfach sichere Erfahrung durch die Gliederung der Zahlen. Auch hier darf nicht versäumt werden, die Ergebnisse ins Bild zu bringen. Aber sehr wichtig ist an dieser Stelle, daß die beiden Zahlen, die multipliziert werden Verschiedenes bedeuten.

Die Grundrechenarten

Mit dem Zählen ist man schon am Beginn des Rechnens mit den Grundrechenarten. Bevor man mit der Einführung der Rechenarten beginnt, sollte man sich klar machen, daß man grundlegende Denktätigkeiten anzulegen und zu pflegen hat. Es sind die folgenden sechs Tätigkeiten: Das Ergänzen, das Zusammenzählen, das Wegnehmen (Abziehen), das Vielfachen, das Teilen und das sogenannte Messen. Jeder dieser Tätigkeiten liegt eine Frage zugrunde, die der Rechner sich stellt und alle sechs sind für den weiteren Aufbau der Mathematik zwingend notwendig. Sie sollen deswegen näher erläutert werden.

Man beginnt mit dem Teilen. Es schließt an die Einführung der Zahlbegriffe durch Gliedern an. Es ist eigentlich nur ein Spezialfall des Gliederns. Ein praktisches Beispiel macht den Kindern klar, worum es geht. Ein Kind verteilt 12 Apfelsinen an vier Kinder. Wieviel Apfelsinen bekommt jedes Kind? Man wird diese Aufgabe dann in der verschiedensten Weise variieren.

Eine ganz andere Fragestellung ist das Messen. Man kann sich etwa folgende Aufgabe vorstellen. Ein Bauer erhält von seinen Kühen jeden Tag 120 Liter Milch. Wieviele Familien kann er damit versorgen, wenn jede Familie täglich drei Liter Milch verbraucht? Man muß natürlich den Kindern dann erklären, daß man auch dann Milch verbraucht, wenn man Käse ißt. Man arbeitet also zunächst an einem ganz praktischen Beispiel die Frage heraus: Wie oft ist eine kleine Menge in einer größeren enthalten?

Das Vielfachen ist ganz einfach. Wenn in einem Haushalt 6 Personen leben und jeder täglich 5 Schnitten Brot ißt, wieviel Schnitten werden täglich in der Familie verbraucht? Die Kinder merken natürlich sofort, daß es nicht ganz einfach ist, aus der Anzahl der Schnitten die Anzahl der Brote zu ermitteln. Dazu muß ich wissen, wieviele Schnitten ein Brot ergeben, d.h. ich muß messen.

Das Ergänzen ist ein Vorgang, der sehr oft im praktischen Leben vorkommt. Die Mutter muß dauernd die Lebensmittelvorräte ergänzen. Der Handwerker muß seine Materialvorräte ergänzen. Ergänzen meint ja, das Ganze wiederherstellen. Es schließt also unmittelbar wieder an die Erarbeitung der Zahlbegriffe an. Man kann etwa von folgender Frage ausgehen: Der Vater will für den Winter Kohlen einlagern. Es werden erfahrungsgemäß 12 Zentner benötigt. Drei Zentner sind noch im Keller vorhanden. Wieviel fehlt und muß gekauft werden? Hier muß man also fragen: "Wieviel muß man zu 3 dazutun, damit man 12 bekommt?" Man könnte auch fragen: "Wieviel müßte man von 12 wegnehmen, damit man 3 bekommt?" Mit beiden Fragestellungen steht man voll im Leben drinnen. Die erste Frage ist der Aufgabe allerdings am angemessensten.

Auch das Abziehen, das Wegnehmen, kommt unablässig in unserem Leben vor. Es ist das Verbrauchen von Existenzmitteln. Die elementarsten Beispiele für die Kinder sind das Essen und das Trinken. Was ich esse ist für alle anderen fort. Ich nehme etwas für mich und lasse den Rest für die anderen über. Was in diesem Vorgang stimmungsmäßig liegt, wirkt für die Kinder gesinnungsbildend. Es ist wichtig, daß diese Tätigkeiten von moralischer Stimmung durchzogen besprochen werden. Es zeigt sich ja, daß die Rechenarten nichts anderes sind, als in die Denksphäre gehobene Tätigkeit, und zwar einfache, elementare Tätigkeit des Menschen. Man bespricht also im Rechenunterricht eigentlich die einfachsten Lebenstätigkeiten.

Auch das Zusammenzählen ist eine einfache Lebenstätigkeit. Auch bei ihm bemerkt man sofort, daß eine Stimmung fast instinktiv damit verbunden ist. Es ist die Stimmung des Zusammenraffens. Aber auch die Freude an der Größe spielt eine Rolle. Wenn man mit dem Zusammenzählen beginnt, ja wenn man gar das Addieren zur Grundlage der Zahlbegriffe macht, fördert man den Sinn für den Egoismus. Deshalb wird man bei der Besprechung des Addierens nach Beispielen suchen, in denen das egoistische Moment zurücktritt. Man kann zum Beispiel den Kindern die Aufgabe stellen, für einen guten Zweck zu sammeln. Dann kann man fragen: "Was kommt heraus, wenn der eine soviel und der andere soviel gibt; noch ein anderer hat noch etwas mehr übrig für den guten Zweck. Was bekommen wir, wenn alle zusammenwerfen?"

Rudolf Steiner sagt zu dieser Problematik folgendes: "Zwei Dinge liegen logisch scheinbar einander recht fern: Rechenunterricht und moralische Prinzipien. Man rückt gewöhnlich gar nicht den Rechenunterricht an die moralischen Prinzipien heran, weil man keinen logischen Zusammenhang zunächst findet. Aber für den, der nun nicht bloß logisch, sondern lebensvoll betrachtet, für den stellt sich die Sache so, daß das eine Kind, das in der richtigen Weise an das Rechnen herangebracht worden ist, ein ganz anderes moralisches Verantwortungsgefühl im späteren Alter hat, als dasjenige Kind, das nicht in der richtigen Weise an das Rechnen herangebracht worden ist. Und - es wird Ihnen vielleicht außerordentlich paradox erscheinen, aber da ich über Wirklichkeiten spreche, und nicht über dasjenige, was sich unser Zeitalter einbildet, so möchte ich, da die Wahrheit unserem Zeitalter oftmals paradox erscheint, auch nicht zurückschrecken vor solchen Paradoxien. Wenn wir nämlich verstanden hätten als Menschen, in den verflossenen Jahrzehnten die menschliche Seele in der richtigen Weise in den Rechenunterricht tauchen zu lassen, hätten wir heute keinen Bolschewismus im Osten von Europa. Das ist dasjenige, was sich ergibt,was man innerlich sieht: mit welchen Kräften diejenige Fähigkeit, die im Rechnen sich auslebt, sich verbindet mit dem, was auch das Moralische im Menschen ergreift."


Lit6

Natürlich wird auch der gesunde Wahrheitssinn durch einen guten Rechenunterricht gefördert, der ja auch eine starke moralische Kraft ist.-

Die vorangegangenen Betrachtungen über die Grundrechenarten sollen folgendermaßen zusammengefaßt werden:

1. Stufe:
Zusammenfügen: a + b = ? ; Wie viel ist beides zusammen?
Ergänzen: a + ? = s ; Was fehlt a gegenüber s?
Abziehen: a - b = ? ; Wie groß ist der Rest?
2. Stufe:
Vielfachen: a * b = ? ; Wie groß ist das a-fache von b?
Abmessen: a * ? = p ; Wie oft ist a in p enthalten?
Teilen: a / b = ? ; Wie groß ist der b-te Teil von a?

Wer Schwierigkeiten mit der formelhaften Darstellung der sechs Grundfragen hat, setze für die Buchstaben natürliche Zahlen ein.

Es gibt also eigentlich 6 Grundrechenarten. Man kann bemerken, daß es bei jeder Rechnung ein passives und ein aktives Element gibt. Dies hat zu verschiedener Benennung der bei einer Rechnung beteiligten Zahlen geführt. Beim Zusammenfügen, dem Addieren, ist a der sog. Augend und b der Auctor. Der Augend a ist das passive Element, dem zugefügt wird und der Auctor b das aktive, das zufügt. Beim Multiplizieren, dem Vielfachen, ist a das aktive Element, der Multiplikator und b das passive, der Multiplikant. Nur wenn man die verschiedenen Rollen von Auctor und Augend, bzw. von Multiplikator und Multiplikant verstanden hat, wird man erkennen, daß

a + b = b + a
a * b = b * a

nicht ohne weiteres als richtig anerkannt werden kann, auch vom Kind nicht. Dieses sogenannte kommutative Gesetz der Addition bzw. der Multiplikation bedarf also einer Einsichtmachung im Rechenunterricht.

Ausblick

Zum Bruchrechnen soll an dieser Stelle nur eine kurze Bemerkung gemacht werden. Die Bruchrechnung stellt für viele Schüler eine Klippe dar, an der sie scheitern. Ein Verständnis der Bruchrechnung ist aber entscheidend wichtig für ein Verständnis der höheren Gebiete der Mathematik. Ein Beispiel soll die Klippe schildern. Unser Verständnis vom Teilen läßt nicht zu, daß durch weniger als 1 geteilt wird. Auch ein Erwachsener kann nicht einsehen, daß man auf weniger als 1 verteilen kann. Man kann also eigentlich nicht fragen: Was kommt heraus, wenn man 12 durch 1/3 teilt? Diese Frage hat keinen Sinn. Aber man kann ganz gut fragen: Wie oft ist 1/3 in 12 enthalten? Wenn man durch einen Bruch, der kleiner als 1 ist, teilt, handelt es sich also um ein Messen. Wenn man Teilen und Messen nicht sauber trennt, gibt es in der Bruchrechnung Verständnisschwierigkeiten. Solche Verständnisschwie-rigkeiten werden durch einen unsachgemäßen Rechenunterricht veranlagt.

Selbstverständlich pflegt man auch das Kopfrechnen während der ganzen Schulzeit. Die Pflege des Kopfrechnens ist eine besonders wirksame Stärkung des selbständigen Urteils und führt deshalb zu einer Festigung der Persönlichkeit, die nicht leicht auf andere Art zu erreichen ist.

Eine der Umkehrungen der beiden primären Rechenarten Addition und Multiplikation führt jeweils zu einer neuen Zahlenart. Die Division führt zu den Brüchen, die zuerst im 4. Schuljahr behandelt werden. Die Subtraktion führt zu den negativen Zahlen, die im 7. Schuljahr eingeführt werden. Die Einführung einer neuen Zahlenart ist eine bedeutende Bewußtseinserweiterung für das Kind und deswegen ein großes Ereignis in der Biographie. Dies muß sich der Lehrer immer vor Augen halten, damit er die rechte Sorgfalt bei der Erteilung des Rechenunterrichtes walten läßt.

Wir haben gesehen, daß die Zahlen Bilder der einfachsten Denkformen des menschlichen Geistes sind. Werden sie mit Verständnis dieser Denkformen benützt, dann werden sie zum Zeichen konkreter Bewußtseinserweiterung. Dann können sie auch dazu dienen, die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen.

Viele Fragen konnten in diesem Aufsatz nicht behandelt werden. Vor allem die wichtige Frage: "Wie arbeitet  man im Rechenunterricht mit den Temperamenten der Kinder" wurde nicht besprochen. Hier sei der daran interessierte Leser auf die Literatur verwiesen.

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Literaturverzeichnis

1. Richard Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? - Stetigkeit und irrationale Zahlen, Berlin 1967. Lit1
2. v. Mangold - Knopp, Einführung in die höhere Mathematik, Bd. 1, Stuttgart 1956.Lit2
3. Bibel, AT, 1. Buch Mose, 2. Kapitel, Vers 19.Lit3
4. Bernard Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, §4, Hamburg 1955.Lit4
5. Rudolf Steiner, Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, Torquai 16.8.1924, GA 311.Lit5
6. Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, GA 305.Lit6
7. Rudolf Steiner, Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, GA 307.
8. Rudolf Steiner, Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, GA 309.
9. Louis Locher-Ernst, Arithmetik und Algebra, Dornach 1984.
10. Ernst Schuberth, Der Anfangsunterricht in der Mathematik an Waldorfschulen.