Gemeinschaftsbildung.htm

Glaubwürdigkeit und ihre Bedeutung
im Hinblick auf die Bildung von Gemeinschaften

Eine anthroposophische Betrachtung

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Einleitung

Gemeinschaftsbildung, vor allem bei Gesellschaften, die ihre Gemeinsamkeit im Streben nach geistiger Erkenntnis suchen, ist eine schwierige Angelegenheit. Die Mitglieder solcher Gesellschaften wandern im Streben nach Brüderlichkeit auf einem schmalen Grat. Rechts ist ein Abgrund und links ist ein Abgrund. Was findet sich in diesen Abgründen? Dieser Frage nachzugehen, und auch der Frage, was man als Mitglied einer solchen Gesellschaft braucht, um den Grat beschreiten zu können, soll die folgende Betrachtung gewidmet sein.

Um diese Fragen beantworten zu können müssen wir uns selber prüfen. Wodurch fühlen wir uns mit einem anderen Menschen verbunden? Wann wenden wir uns ihm mit Sympathie zu? Wodurch erlangt er unser Vertrauen? Umgekehrt gefragt: was ist geeignet, uns von ihm zu trennen? Wodurch entwickeln wir ihm gegenüber Antipathie?

Die im letzten Absatz genannten Fragen kann man auch gegenüber Menschengemeinschaften stellen. Also: Wodurch fühlen wir uns mit einer Menschengemeinschaft verbunden? Wann wenden wir uns ihr mit Sympathie zu? Wodurch erlangt sie unser Vertrauen? Wiederum umgekehrt gefragt: Was ist geeignet, uns von ihr zu trennen? Wodurch entwickeln wir ihr gegenüber Anthipathie?

Die Fragen gegenüber Menschengemeinschaften liegen auf einer anderen Ebene. Ihre Beantwortung scheint viel schwieriger zu sein, als die Fragen gegenüber einzelnen Menschen. Dennoch ist auch klar, daß die beiden Gruppen von Fragen innig miteinander zusammenhängen. Hat man die Fragen der ersten Gruppe beantwortet, wird man gegenüber den Fragen der zweiten Gruppe sicherlich viel gewonnen haben. Es gibt noch eine dritte Gruppe von Fragen zum Thema. Diese Gruppe von Fragen hat mit dem Verlust von Vertrauen zu tun. Sie soll hier zunächst nicht aufgeworfen werden.

Versuch einer Beantwortung der Fragen

Betrachten wir den einfachsten Fall, eine Freundschaft zwischen zwei Menschen. Was ist eine Freundschaft? Kinderfreundschaften gründen sich auf gemeinsames Spiel, gemeinsame Erlebnisse, Freuden, und zum Beispiel bei Schulfreunden, gemeinsamen Leiden. Wenn der Mensch heranwächst und der Jugendzeit zu entwachsen beginnt, werden Freundschaften anders begründet. Man sucht in dieser Zeit die Menschen, die dieselben Ideale wie man selber hat. Findet man solche Menschen, dann entwickeln sich Freundschaften. Diese Art der Begründung von Freundschaften bleibt bis ins hohe Alter. Eins der bedeutendsten Beispiele ist die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller.

An dem Beispiel der Freundschaft zwischen Schiller und Goethe kann man erkennen, daß echte Freundschaften im Geistigen begründet werden. Gemeinsame Ziele, daraus folgend gemeinsames Schaffen sind der Grundstein für eine solche Freundschaft. Damit werden sie schicksalsbildend und wirken weit in die Zukunft hinein. Ein weniger beachtetes Beispiel für eine solche Freundschaft ist die zwischen Karl Marx und Friedrich Engels. Es lassen sich leicht weitere Beispiele hierzu finden. Gemeinsame Ideale führen manchmal sogar zu Freundeskreisen, die entstehen und im Laufe der Zeit auch wieder vergehen können. Echten Freundschaften gegenüber hat man aber immer den Eindruck, daß sie in der Zeitlosigkeit wurzeln. Auch dies ist ein Kennzeichen der Geisthaftigkeit einer Freundschaft.

Ein weiteres Kennzeichen der Freundschaft ist gegenseitiges Vertrauen. Die Gegenseitigkeit ist eine wesentliche Bedingung für das Bestehen einer Freundschaft. Wenn diese Bedingung nicht gegeben ist, lebt einer der beiden Partner in einem tragischen Irrtum. Die Freundschaft ist dann nicht echt, sie besteht eigentlich nicht. Es ist bezeichnend, daß über das gegenseitige Vertrauen unter Freunden nicht gesprochen wird. Es ist so selbstverständlich, daß jede gegenseitige Versicherung des Vertrauens als Beschädigung empfunden wird.

Der Freund wird mit dem Freund leiden und sich freuen und er wird für den Freund einstehen. In klassischer Weise hat dies Friedrich Schiller in dem Gedicht "Die Bürgschaft" dargestellt. In diesem Gedicht behandelt Schiller auch den Zusammenhang des Vertrauens mit der Treue. Treue ist die zweite wesentliche Bedingung für die Freundschaft.

Eine dritte Bedingung für die Entstehung einer Freundschaft ist gegenseitige Wahrhaftigkeit. Nichts verletzt eine Freundschaft mehr als Unwahrhaftigkeit. Unwahrhaftigkeit bei jemand, der einem fern steht, kann man hinnehmen. Man bildet sich ein Urteil, ist aber nicht unbedingt persönlich verletzt. Eine Freundschaft hingegen wird durch Unwahrhaftigkeit sofort zerstört. Wieder ist es so, daß zwischen den Freunden darüber nicht gesprochen wird. Wahrhaftigkeit wird als selbstverständlich empfunden; deshalb wird darüber nicht gesprochen denn das Sprechen wird als die Freundschaft beschädigend empfunden.

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Was in den vorhergehenden Abschnitten über die Freundschaft gesagt wurde, wird durch ein gemeinsames Band zusammengehalten, dieses Band ist die Freundesliebe. Man kann dies auch so sehen, daß die Freundesliebe die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellten Eigenschaften hat. Die Freundesliebe ist nicht die höchste, aber eine der höchsten Formen der Liebe. Aber am Beispiel der Freundesliebe kann man erkennen, worauf wahre Gemeinschaftsbildung beruht, nämlich immer in irgend einer Weise auf der Liebe.

Selbst in der edelsten Freundesliebe findet sich noch ein Rest von Egoismus. Einen solchen Rest gibt es erst bei der allgemeinen Menschenliebe und bei der Gottesliebe nicht mehr. Daher die Frage des Schriftgelehrten nach dem höchsten Gebot vom Meister so beantwortet werden mußte:"Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deinem ganzen Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."

Peter Nantke