Der Gang nach Emmaus

Anthroposophische Betrachtung über das Vertrauen als Grundlage von Gemeinschaftsbildung in Anknüpfung an Lukas 24,1 -- 35

Zurück zum  home

Zurück zum Verzeichnis

Einleitung

Zwei Jünger, Kleophas und ein anderer wandern nach Emmaus. Innerlich erregt und bewegt unterhalten sie sich über das, was in den letzten Tagen in Jerusalem vorgegangen ist. Da gesellt sich ein Fremder zu ihnen und fragt, worüber sie sich so angeregt unterhalten. Kleophas sagt etwas unwillig:

"Du bist wohl der einzige, der nicht gehört hat, was in Jerusalem vorgegangen ist. Dort haben unsere Oberen Jesus von Nazareth, der ein Prophet war und mit großer Kraft gelehrt hat, zum Tode ausgeliefert, von dem wir uns erhofften, daß er Israel befreien würde. Danach haben unsere Frauen am Grab eine Engelerscheinung gehabt und uns berichtet, daß Er auferstanden sei, was uns in große Verwirrung gestürzt hat."

Nun legt der Fremde den beiden die Schrift aus und zeigt ihnen, daß dem Christus dies alles geschehen mußte. Mittlerweile kommen sie in Emmaus an ihrem Heim an. Der Fremde will weitergehen, da lädt ihn einer der beiden mit den Worten ein:

"Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget."

Nun tritt der Fremde mit den beiden Jüngern in das Haus, er nimmt die Einladung also an. Es wird ein Abendbrot bereitet, man setzt sich zu Tisch. Der fremde Gast bricht das Brot und spricht nach israelitischer Sitte den Segen darüber. In diesem Augenblick werden ihre Augen aufgetan, sie erkennen Ihn und zugleich verschwindet er vor ihrem Blick.

1. Teil der Betrachtung

Die beiden Jünger sind beim Aufbruch von Jerusalem erregt, sie zweifeln an der Engelerscheinung der Frauen. Sie zweifeln auch daran, daß Jesus von Nazareth der Messias ist. Kurz gesagt: sie empfinden, daß sie gegenüber den Geschehnissen nicht urteilsfähig sind. Gerade dieser Zustand des Nicht-Urteilsfähig-Seins ist das Motiv für das offenbar sehr engagierte Gespräch. Sie befinden sich in einem seelischen Schwebezustand, etwas gelockert, nicht ganz inkarniert. In die­sem Zustand begegnen sie dem Fremden, der ihnen die Schrift auslegt. Solche Schriftauslegung haben sie oft von ihrem Meister erfahren, dennoch erkennen sie ihn merkwürdigerweise immer noch nicht. Sicherlich mögen sie etwas wacher durch diese Schriftauslegung geworden sein, sicherlich sind sie zum Nachden­ken angeregt worden, dennoch erkennen sie Jesus nicht. Es handelt sich um eine besondere Art von Unfähigkeit, das richtige Urteil: "Er ist es!" zu bilden. Der Zweifel gegenüber den Frauen war zu stark. Sie können sich auch als echte Israeliten nicht vorstellen, daß der Messias gekreuzigt worden ist. Kurz, sie sind in den Vorurteilen ihrer biographischen Entwicklung gefangen. Nun folgt aber so etwas wie eine Prüfung. Dabei wird eine ganz andere Sphäre ihres We­sens angesprochen, nämlich die Willenssphäre. Der Fremde wendet sich ab, um weiterzuwandern, die Dunkelheit bricht an, die beiden empfinden Sympathie, Dankbarkeit für die empfangene Belehrung, -- der Fremde wird eingeladen, denn der Tag hat sich geneiget.

An dieser Stelle des Geschehens muß man sich klar machen, was im Orient eine Einladung bedeutet. Der Fremde wird zum Gastfreund, er wird damit in die Familie aufgenommen. Man wird sich für ihn in jeder Hinsicht verantwortlich fühlen; er bekommt an der Tafel einen Ehrenplatz. Die Herzen sind geöffnet, die beiden haben sich als echte Christen erwiesen, indem sie dem Gebot des Meisters folgten. Noch immer erkennen sie ihn nicht. Er bricht das Brot, er dankt, er segnet. -- Wofür dankt Er, was segnet Er? Jetzt erkennen sie Ihn und zugleich entschwindet er ihrem Blick.

Das gemeinsame Urteil ist da! Aber nicht als Folge des Nachdenkens, das man im Gespräch gepflegt hat, sondern als Folge einer Willensaktion an deren Ende für beide die Intuition: Er ist es! steht. Rückblickend wird klar, welchen Sinn es hatte, daß sie Ihn nicht erkannten. Sie hätten die Freiheit Ihn als einen gewöhnlichen Menschen einzuladen, nicht gehabt. Man darf sogar sagen : sie durften Ihn nicht erkennen, damit sie die Wendung in ihrer Seele aus Freiheit vollziehen konnten.

Was können wir aus dieser Geschichte lernen? In der Weihnachtsgeschichte des Lukas singen die Engel:

"Und Frieden auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind."

Auf diesen guten Willen kommt es an, wenn eine Menschengemeinschaft zu einem gemeinsamen Urteil kommen will.

Zweiter Teil der Betrachtung

Gemeinsames Urteil? Gibt es nicht ein Lebensgebiet, in dem gemeinsame Urteile notwendig sind? Kann man nicht sogar sagen, daß Gemeinschaften sich geradezu durch gemeinsame Urteile konstituieren? In der Tat, das ist so; jede Verfassung, jede Vereinssatzung, jeder Vertrag, jede Ehe ist ein Beweis hierfür. Also muß man auch zu gemeinsamen Urteilen kommen können. Womit geht man beim Urteilen um? Mit Begriffen, mit Ideen, aber auch mit Wahrnehmungen. Was wir nun tun können ist, über die Themen, die uns interessieren, an denen wir uns erregen miteinander ins Gespräch zu kommen. Genau dies tun die beiden Emmausjünger; damit ziehen sie aber auch den Fremden an. Der interessiert sich nämlich dafür, was die beiden so bewegt. Er mischt sich in das Gespräch ein, indem er die Schrift auslegt. Er wirft ihnen vor, daß ihr Herz verhärtet ist, weshalb sie nicht auf das vertrauen können, was in den Propheten über den Messias und sein Leiden zu lesen ist. Dann beginnt er seine Auslegung mit einer Frage:

"Mußte der Christus dies nicht erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?"

Durch die Auslegung wird die Frage aber für die Jünger nicht ganz beantwortet, es muß noch etwas hinzutreten. Sie spüren zwar, daß ihr Herz brennt, aber die Augen werden durch die Auslegung noch nicht geöffnet. Aber sie verbinden sich mit dem Fremden, sie laden ihn ein. Nun können sie die Erfahrung des Brotbrechens machen, die Augen werden geöffnet. Das Gespräch ist eine Vorstufe für gemeinsames Urteilen und für gemeinsame Willensbildung. Hier muß man unterscheiden: Das gemeinsame Urteil ist nur die Grundlage für eine gemeinsame Willensbildung. Ob ein gemeinsamer Wille nach dem gemeinsamen Urteil entsteht, hängt noch von manchem anderen ab. Es ist sogar möglich, daß sich an einem gemeinsamen Urteil ganz verschiedene Willensintentionen entzünden. Dies muß man akzeptieren können. Zwischen Urteil und Willensbildung steht der Entschluß. Dadurch erst ist Freiheit, das höchste Gut der Menschheit, möglich. Dies sieht wie ein Widerspruch zu den vorangegangenen Ausführungen aus. Es ist aber kein Widerspruch. In der Geschichte von den Emmaus-Jüngern führt das Urteil "Der Tag hat sich geneiget" zum Entschluß, den Fremden einzuladen. Dieser Entschluß hat dann die Folge, daß sich in einer anderen Schicht das Urteil "Er ist es!" bildet. Es entsteht ein Urteilsgewebe. Dies ist ein Urteil in einer höheren Schicht, wie z.B. eine Idee ein Begriff in einer höheren Schicht, ein übergeordneter, inhaltsreicherer Begriff ist. Wiederum ist es hier so, daß alle Teilnehmer an einem Gespräch dieselbe Idee in ihrem Denken ergreifen können, gemeinschaftsbildend wirkt die Idee aber erst, wenn sich Fühlen und Wollen der Gesprächsteilnehmer mit der Idee verbinden. Dann nämlich ist sie ihnen zum Ideal geworden, dem alle nachstreben.

Dritter Teil der Betrachtung

Nun ist es an der Zeit, der Frage nachzugehen, welche Schriftstellen den Emmaus­Jüngern ausgelegt wurden. Es handelt sich um mindestens drei Stellen: 1) Jesaja 53, 2) Psalm 22 und 3) 5. Buch Moses, Kap. 18, Vers 15. In Jesaja 53 ist vom armen Gottesknecht die Rede. "Wer glaubte dem, was wir vernahmen? Wem ward der Arm Jahwes enthüllt?" -- Gleich am Anfang ist vom Unglauben die Rede. Dann wird der Gottesknecht geschildert. Verachtet ist er, keine schöne Gestalt besitzt er, von den Menschen wird er gemieden, er ist leiderfahren; wie einer, vor dem man sein Angesicht verhüllt, verabscheut, von niemandem beachtet. Aber nun wird seine Aufgabe, seine Leistung für die Menschen geschildert:

"Aber wahrlich, unsere Krankheiten hat er getragen, unsere Schmerzen hat er auf sich geladen . . . Er ward durchbohrt um unserer Sünden willen, zerschlagen für unsere Missetaten. . . . Wir alle irrten umher wie die Schafe, jeder ging seine eigenen Wege. Aber Jahwe ließ ihn treffen die Schuld von uns allen. Er wurde mißhandelt, doch er beugte sich. . . . Jahwe gefiel es, ihn durch Leiden zu zermalmen; wenn er sein Leben als Schuldopfer hingibt, wird er Nachwuchs sehen und viele Lebenstage,
. . . Nach der Mühsal seiner Seele wird er Licht se­hen und sich sättigen. Durch sein Leiden wird mein Knecht viele rechtfertigen, indem er ihr Verschulden auf sich nimmt."

Durch Jesaja 53 wird das Vorurteil weggeschafft, der Messias müsse als König von Israel in aller Herrlichkeit erscheinen und das äußere Reich Salomos wieder herstellen. Mit diesem Vorurteil leben die beiden Jünger; daher gerade rührt ihr Unglaube. Mangelndes Vertrauen beruht immer auf Vorurteilen, die sich auf irgend eine Weise in der Seele gebildet haben. Wenn im Evangelium oder bei Paulus vom Glauben die Rede ist, wird im­mer das Wort pistis oder pisteuo gebraucht, welches trauen, Vertrauen, glauben im Sinne von "überzeugt sein, eine persönliche und begründete Überzeugung haben" meint. Dies steht im Gegensatz zu der Vokabel dokeo, die meinen, glauben, wähnen im Sinne von "ich weiß es nicht, aber ich halte dafür" bedeutet. Letzteres wird im Evangelium nie gebraucht, wenn vom Glauben die Rede ist. Im heutigen Deutsch werden die beiden ganz verschiedenen Bedeutungen oft vermengt, so daß die Aussage des Evangeliums unscharf, unklar wird. Deswegen sollte man heutzutage pistis nicht einfach mit Glauben übersetzen. Dies mag zu Luthers Zeit noch anders gewesen sein.

Der fremde Begleiter wirft den beiden Jüngern Verständnislosigkeit, Torheit, Trägheit des Herzens vor. Ihr Herz kann sich noch nicht abwenden von dem, was sie als Israeliten erhoffen. Wenn die Vorurteile fallen, kann sich das Herz dem gegenwärtigen Erleben, der Offenbarung, der aktuellen Inspiration zuwenden. So wird die Trägheit des Herzens überwunden, das Herz wird zum Wahrnehmungsorgan. Das ist der rechte Glaube, der zur Überzeugung aus dem eigenen Erleben wird, der sich nicht mehr auf Dogmen oder das Gesetz stützt. Der rechte Glaube fließt aus der Kraft des Herzens, aus der Kraft der eigenen Persönlichkeit, der Individualität.

Nun wenden wir uns dem 22. Psalm zu. Der Psalm beginnt mit den Worten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." Der Psalm ist ein Kla­gelied des armen Gottesknechtes. Er behandelt dasselbe Thema wie Jesaja 53. Der Psalm ist wahrscheinlich älter als die Stelle bei Jesaja; man sieht daran, daß das Thema vom armen Gottesknecht ein Grundthema der israelitischen Geistesgeschichte ist. Weiter finden sich im 22. Psalm folgende Verse:

"Denn Hunde lagern rings um mich, und mich umkreist die Rotte der Übeltäter;
. . . Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand."
5. Mo­ses,15 lautet: "Einen Propheten wie mich wird dir Jahwe, dein Gott aus der Mitte deiner Brüder erstehen lassen, auf ihn sollt ihr hören."
Und weiter Vers 18: "Einen Propheten wie dich werde ich ihnen aus der Mitte ihrer Brüder er­stehen lassen; ihm werde ich meine Worte in den Mund legen, und er hat ihnen alles zu verkünden, was ich ihm gebiete."

Vierter Teil der Betrachtung

Bei Paulus im Galaterbrief, 15 -- 18 findet sich folgende Passage:

"Brüder, ich rede nach Menschenart. Schon eines Menschen rechtskräftig gewordenes Testament kann niemand umstoßen oder ihm eine neue Klausel anhängen. Nun sind aber die Verheißungen dem Abraham und seinem Samen zugesagt worden. Es heißt nicht: und den Samen, als ob es sich um eine Mehrzahl handelte, sondern im Hinblick auf einen einzigen: und "deinem Samen", das ist Christus. Damit will ich sagen: Ein von Gott früher rechtskräftig gemachtes Testament kann das nach vierhundertdreißig Jahren (danach) entstandene Gesetz nicht außer Geltung setzen, so daß es die Verheißung unwirksam machte. Denn wenn aus dem Gesetze das Erbe käme, dann käme es nicht mehr aus der Verheißung. Dem Abraham hat Gott aber durch die Verheißung Gnade geschenkt."

Es fällt auf, daß auch im 5. Buch Mose, Vers 15 und 18 die Einzahl benutzt wird. Der Brief behandelt die Beziehung des Glaubens zum Gesetz und zur Freiheit.

"Zur Freiheit hat Christus uns befreit; so steht denn fest und laßt euch nicht wieder in das Joch der Knechtschaft spannen. Seht, ich, Paulus sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, wird Christus euch nichts nützen. Ich versichere noch einmal jedem Menschen, der sich beschneiden läßt: er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Geschieden seid ihr von Christus, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir erwarten im Geiste auf Grund des Glaubens die Hoffnung der Gerechtigkeit. In Christus Jesus hat nämlich weder die Beschneidung noch das Unbeschnittensein irgendwelche Kraft, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist."

Damit stellt Paulus die christliche Freiheit auf den sicheren Boden der persönlichen Überzeugung die durch die christliche Liebe wirksam wird. Etwas später (Vers 13 -- 15) sagt er:

"Gewiß, zur Freiheit seid ihr berufen, Brüder! Nur macht die Freiheit nicht zum Stützpunkt des Fleischestriebes, dient vielmehr einander in Liebe. Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt, nämlich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Wenn ihr euch freilich einander beißt und freßt, dann seht zu, daß ihr nicht voneinander aufgefressen werdet."

Schlußbetrachtung

Die Erzählung von den Emmausjüngern ist in urbildlicher Art in der Of­fenbarung des Johannes im Brief an den Engel der Gemeinde in Laodizea zusammengefaßt. Der mangelnde Glaube wird in diesem Brief als Lauheit charakterisiert. Wer weder kalt noch warm ist, der kann sich nicht für die Wahrheit entscheiden. Er ist blind. Deshalb ist ihm Weisheit (im Feuer geläutertes Gold) nötig und Salbe für die Augen, damit sie sehend werden. Der Brief endet:

"Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür aufmacht, so werde ich bei ihm einkehren und Mahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindend ist, dem werde ich verleihen, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden und mich zu meinem Vater auf den Thron gesetzt habe. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt."

Peter Nantke

weissdorn

Zurück zu  home